Europäische Union:Viele Worte und ein paar Kriegsschiffe

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Leben retten, Menschen aber nicht anlocken: Auf dem EU-Sondergipfel zur Flüchtlingstragödie im Mittelmeer versuchen sich die Mitgliedstaaten an einem unmöglichen Spagat.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Ein einfacher Holzsarg, darauf ein Name: "Moustaphe Balde. Ertrunken". Menschenrechtsgruppen haben zu einem Trauermarsch durch Brüssel gebeten. Mehrere Hundert Menschen sind der Einladung gefolgt, mit drei Holzsärgen nähern sie sich dem Ratsgebäude der Europäischen Union. Sie halten auch gelbe Zettel in die Höhe: "Nun ist die Zeit zu handeln", steht darauf. Und: "Keine Worte mehr."

Keine Worte mehr? Die Staats-und Regierungschefs sind ja vom EU-Ratspräsidenten Donald Tusk zusammengerufen worden, um zu zeigen, dass sie nicht schweigen. Dass sie nicht gleichgültig bleiben, wenn Tausende sterben auf dem Mittelmeer, sterben auf dem Weg nach Europa. "Menschenleben zu retten ist unsere erste Priorität", sagt Tusk vor Beginn des Treffens. "An allererster Stelle geht es darum, Menschenleben zu retten", sagt Kanzlerin Angela Merkel. "Beim heutigen Treffen geht es darum, Menschenleben zu retten", sagt der Brite David Cameron. Es ist ein Satz, der in Variationen sehr oft fällt an diesem Tag. Nur Worte?

Mehr als Worte? Diese Demonstranten fordern in Brüssel Taten von den EU-Staats-und Regierungschefs. (Foto: Emmanuel Dunand/AFP)

Im Entwurf der Gipfelerklärung war davon die Rede, dass die Finanzmittel für die EU-Grenzschutzmission Triton in den Jahren 2015 und 2016 "mindestens verdoppelt" werden sollen. Während des Gipfels wird schnell klar, dass die Staaten zu einer Verdreifachung bereit sind. Das wären dann monatlich neun Millionen Euro - so viel wie die Italiener für die beendete Seenotrettungsaktion Mare Nostrum ausgegeben hatten. Auch die Zahl von Schiffen und anderem Gerät soll erhöht werden. Das ist alles mehr als nichts, doch was die Erhöhung genau bedeutet, lässt sich an diesem Tag nicht verlässlich sagen. Triton wird verantwortet von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, und deren Chef Fabrice Leggeri hat pünktlich zum Sondergipfel wissen lassen, dass nicht Seenotrettung sein Hauptgeschäft ist, sondern Grenzschutz. Darüber schweigen die EU-Staaten lieber. Denn in einem Punkt sind sie sich relativ einig: Sie wollen nicht zurück zur Mission Mare Nostrum, die nichts sollte als möglichst viele Menschenleben zu retten.

Beim Sondergipfel ist, wie stets, viel von Einheit, von Solidarität die Rede. Es gibt sie, aber sie besteht an diesem Tag nicht zuletzt darin, gemeinsam dem Druck der Erwartungen zu widerstehen. Druck, wie er sich in einem offenen Brief europäischer Persönlichkeiten äußert, unter ihnen der frühere schwedische Premierminister Carl Bildt und Ex-Nato-Generalsekretär Javier Solana. "Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen umgehend eine umfassende Such- und Rettungsoperation initiieren, die in ihrem Mandat und der finanziellen Ausstattung den Anforderungen der dramatischen humanitären Lage im Mittelmeer entspricht", heißt es da. Die Todeszahlen seien "ein Schandfleck auf dem europäischen Gewissen". Auch mehrere Organisationen der Vereinten Nationen melden sich. "Die Anstrengungen der Europäischen Union müssen über den gegenwärtigen minimalistischen Ansatz hinausgehen", fordern sie.

Die Antwort der EU darauf ist ein "aber". Die Rettung von Menschenleben genieße Priorität, aber das sei durch Seenotrettung allein eben nicht zu bewerkstelligen. "Es geht darum, den Menschenhandel von Schleppern, brutalen Schleppern, zu unterbinden", sagt Merkel. Sie ist sich darin einig mit den anderen Staats- und Regierungschefs. Flüchtlingen, die illegal nach Europa wollen, soll der Weg übers Mittelmeer möglichst versperrt werden.

Großbritannien stehe natürlich bereit, sagt Cameron. Aber selbst Flüchtlinge aufnehmen?

Wie? Das wissen die Staats- und Regierungschefs nicht genau, weshalb an die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini der Auftrag ergehen soll, eine Mission auszuloten, die den Schleusern zur See das Handwerk legen soll. Im Entwurf der Gipfelerklärung ist die Rede von "systematischen Bemühungen", Schiffe von Schleusern "zu identifizieren, zu beschlagnahmen und zu zerstören, bevor sie eingesetzt werden". Vorbild könnte die EU-Operation Atalanta sein, mit dem Schiffe des Welternährungsprogramms auf dem Weg nach Somalia vor Piraten geschützt werden. "Der Rat will jetzt sogar militärische Mittel dafür einsetzen, dass man Flüchtlinge davon abhält, sich der Europäischen Union zu nähern", empört sich die grüne Europaabgeordnete Ska Keller, eine der Teilnehmerinnen am Trauermarsch durch Brüssel. "Aus meiner Sicht ist das der Gipfel. Es gibt keine Anteilnahme, nur die Botschaft: Flüchtlinge sollen wegbleiben und dafür setzen wir das Militär ein."

In der Tat geht es in Brüssel um einen Spagat: Menschenleben sollen gerettet, aber Menschen nicht angelockt werden. Besonders drastisch veranschaulicht das wieder einmal eine Äußerung des britischen Premiers Cameron. "Wenn eine Tragödie passiert, steht Großbritannien immer bereit", verkündet er. Als stärkste Militärmacht der EU sei es dazu prädestiniert. Vier Schiffe und zwei Hubschrauber könne sein Land sofort bereitstellen. Die Staats-und Regierungschefs sprechen auch über eine gerechtere Verteilung der Lasten. Einige EU-Länder haben bisher kaum Flüchtlinge aufgenommen, andere, etwa Deutschland, tragen die Hauptlast. Gerettete Flüchtlinge werde man gerne nach Italien bringen, sagt Cameron. Auf keinen Fall aber: ins Vereinigte Königreich.

© SZ vom 24.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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