Europäische Union:Unterwegs zu einem gemeinsamen Weg

Nach Wochen der Grenzschließungen rollt der innereuropäische Verkehr wieder an. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson findet, es sei an der Zeit, Kontrollen an den Übergängen aufzuheben.

Von Karoline Meta Beisel und Oliver Meiler, Brüssel/Rom

Die Grenze zwischen Italien und Österreich ist gut 400 Kilometer lang, sie verläuft auf langen Strecken durch die Berge. Nun ist sie mal wieder ein diplomatischer Casus. Italien hat seine Seite der Grenze am 3. Juni geöffnet, die Österreicher behalten ihre aber wegen der unterschiedlichen Entwicklung der Pandemie in beiden Ländern vorübergehend geschlossen. Oder besser: Wer aus Italien kommt, muss in Österreich einen Test vorweisen oder für 14 Tage in Quarantäne gehen. Gegenüber allen anderen Nachbarländern öffnet sich Österreich hingegen ganz. In Wien will man nicht falsch verstanden werden: "Das ist kein Entscheid gegen Italien", sagte Alexander Schallenberg, Österreichs Außenminister, der Mailänder Zeitung Corriere della Sera. "Italien ist unser Partner und Freund." Aber so kommt die Botschaft südlich vom Brenner nicht an. Italiens Außenminister Luigi Di Maio sprach von "Individualismus" - das Vorgehen verletze den europäischen Geist.

Auch andere Länder haben noch nicht alle Grenzen wieder geöffnet. So haben Dänemark und Norwegen zwar die Kontrollen zwischen ihren Ländern eingestellt, aber nicht die zum Nachbarland Schweden, dem Heimatland von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Prinzipiell spreche nichts dagegen, mit Blick auf die epidemiologische Situation in den Nachbarländern nicht alle Grenzen auf einmal zu öffnen, sagt sie im Gespräch mit der SZ und zwei weiteren europäischen Medien: "Solche Unterscheidungen entsprechen den Empfehlungen, die wir in unseren Leitlinien gegeben haben." Allgemein aber habe sich die Lage in allen Mitgliedstaaten verbessert, und überall gälten inzwischen Abstandsregeln. "Darum ist es nun an der Zeit, alle Binnengrenzkontrollen wieder abzubauen", sagt Johansson. An diesem Freitag will sie den EU-Innenministern bei einer Videokonferenz empfehlen, spätestens bis Ende des Monats alle Grenzkontrollen aufzuheben. "Das ist wichtig für den Güterverkehr und die Wirtschaft, aber auch für Menschen, die ihre Familie und Freunde wiedersehen wollen."

Coronavirus - Grenze Tschechien - Österreich

Während der Hochphase der Pandemie schlossen viele Staaten ihre Grenzen für Individualverkehr. Doch das sei "kein effektiver Weg, die Ausbreitung des Virus zu verhindern", findet EU-Innenkommissarin Johansson.

(Foto: Václav Pancer/dpa)

Die EU-Kommission hatte Grenzschließungen schon zu Beginn der Pandemie kritisch gesehen: "Sie sind kein effektiver Weg, die Ausbreitung des Virus zu verhindern", sagt Johansson. Als "Fehler" würde sie diese Grenzschließungen im Nachhinein trotzdem nicht bezeichnen: "Die Mitgliedstaaten mussten in sehr kurzer Zeit sehr schwierige Entscheidungen treffen."

Insgesamt 17 Länder der EU und des Schengenraums haben zu Beginn der Pandemie Grenzkontrollen eingeführt. Gerade in den ersten Tagen und Wochen waren teils enorme Wartezeiten an den Grenzübergängen die Folge. Inzwischen aber habe sich die Situation eingependelt, sagt Johansson. Die ersten fünf Länder hätten ihre Grenzen bereits wieder ganz geöffnet oder das für den 15. Juni angekündigt. Weitere fünf hätten für diesen Termin in Aussicht gestellt, zumindest einen Teil der Corona-bedingten Grenzkontrollen zu beenden.

Mitte Juni wollen auch die Österreicher die Lage neu beurteilen. Diskutiert wird die Möglichkeit, dass die Grenze selektiv für Italiener geöffnet werden könnte, die aus Regionen stammen, in denen das Virus unter Kontrolle ist. Wie sinnvoll eine solche Sonderregelung wäre, ist allerdings fraglich: Seit dem 3. Juni dürfen die Italiener sich innerhalb ihres Landes völlig frei bewegen, von stark getroffenen Regionen in weniger stark getroffene.

Virus Outbreak Europe Tourism

In ihrer Heimat Schweden bekleidete die Sozialdemokratin Ylva Johansson mehrere Ministerposten, seit Dezember 2019 ist sie Kommissarin für Inneres der EU-Kommission.

(Foto: Olivier Hoslet/picture alliance/AP Photo)

Bei allem vorsichtigen Optimismus weiß man auch in der EU-Kommission, dass es an manchen Grenzen noch Schwierigkeiten gibt. Das merkt man daran, dass die Behörde gleichzeitig mit dem Interview eine neue App veröffentlichte: "Galileo Green Lane" soll mit Hilfe von Satellitendaten Auskunft darüber geben, wie lange man wo warten muss, um Grenzen zu überqueren, die es vor der Corona-Krise im Bewusstsein vieler europäischer Bürger eigentlich gar nicht mehr gegeben hatte. In einer Mitteilung schreibt die Kommission, die App sei bei Lkw-Fahrern bereits "sehr beliebt". Noch mehr würden sich die Fahrer vermutlich darüber freuen, wenn sie einfach nicht mehr warten müssten an den Grenzen.

Dass alle Binnengrenzkontrollen aufgehoben werden, ist aus Sicht von Kommissarin Johansson auch eine Bedingung für den nächsten Schritt: die Öffnung der EU auch für Reisende aus anderen Ländern. Zuletzt hatten die Mitgliedstaaten die Kontrollen an der Außengrenzen bis zum 15. Juni verlängert, solange sind "nicht notwendige" Reisen in die EU nicht möglich. Aber auch darüber werden die Innenminister am Freitag diskutieren. "Wir sind so eng miteinander verflochten, dass wir dafür einen gemeinsamen Weg finden müssen", sagt Johansson. Sie könne sich gut vorstellen, dass sich die Mitgliedsländer für die Außengrenze der EU auf eine schrittweise Öffnung einigten, Einreisen also zunächst aus bestimmten Ländern ermöglichten.

Aber wäre es neben all den Diskussionen über Grenzöffnungen nicht auch angezeigt, sich auf neuerliche Schließungen einzustellen, für den Fall eines Aufflackerns der Pandemie? Ausschließen könne man das nicht, sagt Johansson. "Aber wir wissen heute viel besser als im März, wie wir mit diesem Virus umgehen müssen. Es würde mich darum wundern, wenn die Länder bei einer zweiten Infektionswelle wieder die Grenzen schließen."

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