Europäische Union:Schneller Schwabe

EU-Kommission denkt über europäische Plastiksteuer nach

Mahnte die EU regelmäßig, sich nicht global abhängen zu lassen: der scheidende EU-Kommissar Günther Oettinger.

(Foto: Wiktor Dabkowski/dpa)

"Unser Mann in Brüssel": Günther Oettinger hört nach neun Jahren als EU-Kommissar auf. Spott über sein Englisch steckte er weg und setzte auf Fleiß, Sachkunde und Meinungsstärke.

Von Björn Finke und Alexander Mühlauer, Brüssel

Im zwölften Stock des Berlaymont-Gebäudes, der Zentrale der EU-Kommission, stehen schon die Umzugskisten auf dem Flur. Es ist einer der letzten Arbeitstage der bisherigen Kommission, am 1. Dezember startet das neue Team um Präsidentin Ursula von der Leyen. Aus dem Besprechungszimmer geht der Blick über Brüssel bis zum Atomium am Stadtrand. Doch Günther Oettinger hat kein Auge für dieses Panorama, er setzt sich mit dem Rücken zum Fenster, sein Stammplatz in diesem Raum. Nach neun Jahren und zehn Monaten als EU-Kommissar ist er diese Aussicht wohl gewohnt.

Der frühere Ministerpräsident Baden-Württembergs hat in Brüssel zwei Präsidenten gedient und drei Themen verantwortet. Unter José Manuel Barroso war er für Energie zuständig; in der Kommission von Jean-Claude Juncker erst fürs Digitale, später für Haushalt und Personal. Aber der CDU-Politiker befreite sich in seinen Reden und Interviews regelmäßig vom Korsett seiner Ressorts. Er versteht sich als Mahner, der mit Vorliebe Untergangsszenarien einer global abgehängten EU und eines verschlafenen Deutschland entwirft. Gerade seinen Landsleuten liest er gerne die Leviten. Seine Meinungsfreude bekam kürzlich wieder die Bundesregierung zu spüren, der Haushaltskommissar Oettinger vorwarf, beim Streit um den neuen siebenjährigen Budgetplan der EU "schlichtweg falsche Horrorzahlen" zu verbreiten.

Nun, nach einem halben Leben in der Politik, will der 66-Jährige in die Wirtschaft oder den Lobbyismus wechseln. Der Jurist galt als Kandidat für den Chefposten beim mächtigen Verband der Automobilindustrie, doch hier kam Parteifreundin Hildegard Müller zum Zug. "Ich gründe eine Beratung", sagt Oettinger beim Gespräch im Berlaymont. "Aber das ist nur ein Teil des Fundaments, das ich in den kommenden Wochen legen will. Ich habe einige Ideen und einige Angebote."

Seine künftigen Arbeit- oder Auftraggeber heuern jemanden an, der gerne Klartext redet, ohne Rücksicht auf Verluste oder gar politische Korrektheit. Oft tat sich Oettinger damit keinen Gefallen, so wie bei einem denkwürdigen Auftritt 2017 in Hamburg. Der Kommissar warnte da vor Chinas Aufstieg, sprach von "Schlitzohren und Schlitzaugen"; nebenbei machte er sich über die "Homo-Pflichtehe" lustig. Nach seiner Rede sagte der Schwabe, er habe "frei von der Leber, as we say in German" gesprochen. Trotzdem gab es von Juncker einen Rüffel; der Stakkato-Redner musste sich entschuldigen. So schnell wie Oettinger redet, so schnell frisst er auch Akten. Wer ihn früh morgens im Flugzeug trifft, kann zusehen, wie er einen Stapel Papier in einer schier unglaublichen Geschwindigkeit durcharbeitet. Juncker bescheinigte ihm stets besonderen Fleiß.

Der Arbeitseifer ist gepaart mit Geselligkeit. Oettinger begrüßte noch spätabends Lobbyisten und Journalisten im Berlaymont. Meistens war er aber auf einem der Brüsseler Empfänge anzutreffen, wo er gut gelaunt über Europa und die Welt sinnierte. Eines seiner Wohnzimmer war die Schwarzwaldstube in der baden-württembergischen Landesvertretung in Brüssel. Dort blühte er gerade zu später Stunde auf, an Heimgehen war nicht zu denken. Am Wochenende, wenn es in Brüssel ruhig ist, war er dann oft in Deutschland unterwegs. Im Landesverband der baden-württembergischen CDU hat er weiterhin Einfluss, als wäre er nie weg gewesen.

Und egal, wer ihn in Brüssel aus seiner Heimat besuchen wollte, Oettinger fand fast immer Zeit. Er war stets ansprechbar - für die Industriebosse sowieso, aber auch für so manchen schwäbischen Verein, der bei seinem Ausflug mal kurz den Kommissar sehen wollte. Für viele Deutsche war Oettinger darum genau das: "unser Mann in Brüssel". Wobei er hier starke Konkurrenz hatte. Martin Schulz (SPD) drängte sich in seiner Zeit als Präsident des Europaparlaments sicherlich vor mehr Fernsehkameras als der Kommissar.

In Brüssel sei mehr zu bewegen als im Landtag von Baden-Württemberg, findet er

Günther Oettinger und die Deutschen - das war bisher keine leichte Beziehung. Und vielleicht ein Missverständnis. Für viele war er schlicht der peinliche Schwabe, der nicht einmal richtig Englisch sprechen konnte. Sicher, Oettinger verlor so manchen Zweikampf mit der englischen Sprache - aber viele Politiker in Brüssel versuchen das erst gar nicht und trauen sich ohne Dolmetscher nicht in die Öffentlichkeit. Nach fast zehn Jahren Brüssel muss man sagen: Oettinger parliert besser denn je, und die lingua franca in der EU-Hauptstadt ist ohnehin Bad English. Wer den Kommissar nicht nur von Youtube-Videos fragwürdiger Auftritte kennt, sondern live sieht, muss ohnehin anerkennen: Er kann gute und launige Reden halten, auch wenn er sich manchmal vergaloppiert.

Bei seinen wirtschaftspolitischen Positionen zeigte Oettinger stets eine gewisse Nähe zur Industrie, gerade als Energiekommissar. Anders als im Digitalressort fühlte er sich dort zu Hause. Der Habitus der hemdsärmeligen Energiebosse entsprach eher dem Naturell Oettingers als das verkopfte Auftreten so mancher Digitalunternehmer. Er ist einfach ein analoger Mensch, telefoniert lieber, als sich mit den neuesten Apps auf dem Smartphone auseinanderzusetzen.

Oettinger sagt rückblickend, dass in seine Zeit als Energiekommissar auch sein größter Erfolg in Brüssel fiel: "Im Jahr 2014 habe ich in letzter Minute einen Kompromiss im Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine vermittelt. Das sicherte die Gasversorgung in diesem Winter, und dieses Abkommen ist immer noch in Kraft." Als Tiefpunkt seiner fast zehn Jahre bei der EU bezeichnet er den Ausgang des Brexit-Referendums: "Das war ein Schock. Ich hätte das nie erwartet."

Ein halbes Jahr nach der fatalen Volksabstimmung tauschte Oettinger das Digitalressort mit dem mächtigen Portfolio Haushalt und Personal - ein Glücksfall, denn hier war der Aktenfresser in seinem Element. Allerdings fiel in seine Zeit als oberster Personaler auch die umstrittene Beförderung von Junckers engstem Mitarbeiter Martin Selmayr. Der deutsche Jurist war Kabinettschef des Präsidenten und wurde binnen Minuten vom stellvertretenden Generalsekretär zum Generalsekretär der Kommission befördert. Für das Blitzverfahren hagelte es Kritik, doch als zuständiger Kommissar verteidigte Oettinger die Entscheidung und stand loyal an Junckers Seite. Dafür durfte er anders als so mancher Kollege dem Kommissionspräsidenten auch mal die Meinung sagen.

Oettinger findet, wenn man es richtig anstelle, könne man in Brüssel "mehr politisch bewegen als im Landtag von Baden-Württemberg". Sein früherer Posten als Ministerpräsident sei "wichtig, aber die meisten Gesetze werden in Berlin und Brüssel gemacht". Die EU-Gesetzgebung sei freilich "sehr kompliziert, es gibt viele Beteiligte", daher müsse es einem gelingen, Kompromisse zu schmieden.

Nun wird der Ex-Ministerpräsident und Ex-Kommissar sein politisches Geschick in den Dienst der Wirtschaft stellen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: