Süddeutsche Zeitung

Zehn Jahre Vertrag von Lissabon:Was verbindet

Europäische Integration und nationale Identität sind keine Gegensätze. Denn die Menschen haben mehr gemein, als eine bloß zufällige Nationszugehörigkeit.

Gastbeitrag von Roya Sangi

Wie kann man als Erwachsene in ein Land immigrieren, dessen Sprache und Verfassung einem fremd sind - und dann Verfassungsrechtlerin werden?", wurde ich kürzlich gefragt. Was bedeutet schon fremd?, dachte ich und fragte nur zurück: "Gibt es universelle Werte, die nicht in unserem Grundgesetz verankert sind?"

Die erste Frage unterstellt, jedenfalls unbewusst, dass sich nur derjenige mit einer Verfassungsordnung identifizieren kann, der im jeweiligen Land geboren wurde, der also "dazugehört". Nicht siriusfern davon ist die tradierte Staatsrechtslehre, welche die Existenz eines Staatsvolks zur Bedingung des "Staatscharakters" einer Gemeinschaft macht. Und ebenso liest man in den Leiturteilen des Bundesverfassungsgerichts zu den EU-Verträgen - insbesondere in dem Urteil zum Vertrag von Lissabon, der in dieser Woche sein zehnjähriges Bestehen feiert - weniger von der universellen Offenheit des Grundgesetzes als davon, dass Demokratie allein vom Staatsvolk ausgehen könne.

Ausgehend von einem solchen Demokratieverständnis, wonach die Demokratie einer vorrechtlichen kollektiven Einheit und Identität, sprich eines Volkes, bedarf, hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Lissabon-Urteil einer supranationalen europäischen Demokratie klare Grenzen gesetzt. Die Existenz eines europäischen Volkes und dessen Repräsentation durch das Europäische Parlament hat es verneint und dessen demokratische Legitimationsleistung bestenfalls als ergänzend angesehen.

Die Demokratie liegt zunächst in der Souveränität des Individuums begründet

Wie man das Europäische Parlament, das einzig direkt demokratisch legitimierte politische Organ der EU und damit die größte Errungenschaft des Kontinents, dergestalt degradieren kann, erschließt sich nicht. Nicht nur in Zeiten des Rechtspopulismus bleibt diese Reinkarnation der Volksdemokratie demokratietheoretisch rechtfertigungsbedürftig. Anders als es sich das Bundesverfassungsgericht vor zehn Jahren offenbar erhofft hat, nimmt seine Demokratietheorie die Euro-Skeptiker und die Besorgten nicht etwa auf dem Weg des europäischen Integrationsprozesses mit, sondern gibt Nationalisten und Populisten stets neue Nahrung. Denn sie sind es, die nun "im Namen des Volkes" einen Alleinvertretungsanspruch behaupten und in immer kürzeren Abständen vor das höchste deutsche Gericht ziehen, um Deutschlands Verfassungsidentität an seinen Grenzen und vor Europa schützen zu lassen.

Wann ist Deutschland aber souverän? Wenn es nicht fremdbestimmt wird, wäre die kurze Antwort. Warum sollte es in einer Europäischen Union, deren Verfassung, Arbeitsweise und Rechtsvorschriften stets von Deutschland mehr als von jedem anderen Staat mitgeprägt wurden, fremdbestimmt sein? War es nicht gerade die Europäische Union, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg neue Souveränität ermöglicht hat? Die Demokratie erschöpft sich nicht in der Volkssouveränität, sondern liegt zunächst in der Souveränität des Individuums begründet.

Wir, die Menschen, sind es, die durch Wahlen und Abstimmungen entscheiden, mit wem wir ein Gemeinwesen gründen und mit wem wir uns identifizieren. Wir Unionsbürger sind es, die wir uns eine europäische Identität neben unserer lokalen, regionalen und deutschen Identität zugelegt haben. Und wir Unionsbürger sind es, welche die Herausforderungen der Zukunft nicht allein durch lokal, regional und national gesetztes Recht bewältigen wollen (und fürwahr auch nicht können), sondern eben auch durch eine supranationale Rechtsordnung, die unsere Möglichkeiten und unseren Horizont erweitert. Ebendies entspricht der freiheitlichen Wertordnung des Grundgesetzes - nicht aber die Frage nach Herkunft und vagen Identitätsgefühlen. Einer Hamburgerin widerfährt kein Identitätswechsel, wenn sie zugleich Deutsche ist, genauso wenig stellt ihre Unionsbürgerschaft ihre deutsche Identität infrage.

Die deutlich hörbare Klage, durch die EU fremdbestimmt zu sein, hat ihre Ursache nicht so sehr in einem fehlenden "identitätsstiftenden gesamteuropäischen Nationalbewusstsein" beziehungsweise einem fehlenden "hinreichenden Maß an Homogenität in Sprache und Tradition", wie es der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, 2016 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausdrückte - ohnehin sind Sprache und Tradition nichts Naturgegebenes, sondern sozial vermittelt. Vielmehr geht die Klage in Wahrheit auf die zunehmende soziale Ungerechtigkeit zurück, die zu Recht als Ursache der Rückkehr des Nationalismus erachtet wird. Hier liegt aber gerade das Paradox: Die Sozialpolitik war und ist in erster Linie eine nationale Kompetenz. Das soziale Versagen ist vor allem national, nicht supranational verschuldet.

Man muss keine Diktatur erlebt haben, um die Friedenskraft der EU zu schätzen zu wissen

Gewiss: Ebenso wie jede andere Herrschaftsform ist auch die EU reformbedürftig. Sie ist indes keine außerirdische Herrschaft, und die EU-Bürokraten sind auch keine Aliens: Wir Unionsbürger selbst sind die Union und engagieren ihre Repräsentanten. Wir sind gefragt zu handeln. Mit der Ignoranz, der Mut- und Ideenlosigkeit der deutschen EU-Politik gegenüber allen Reforminitiativen sowie einem nationalstaatlich geprägten Demokratieverständnis wurde indes in den vergangenen zehn Jahren die Chance verpasst, die EU konstruktiv zu optimieren. Insbesondere wurde versäumt, Europa von der US-amerikanischen Außen- und Handelspolitik unabhängiger zu machen. Welche Folgen dies hat, zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Atomabkommens mit Iran. Seit dem Rückzug der USA ist es praktisch nichts mehr wert. Wer noch Hoffnung auf eine konstruktivere deutsche Europapolitik hatte, dem raubte sie die Vorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer: In einem Gastbeitrag erteilte sie eine klare Absage an alles, was auch nur im Entferntesten als Europäisierung verstanden werden könnte. In der Folge sprach sie sich für die Gleichberechtigung des Intergouvernementalen aus. Mit anderen Worten: keine Einbindung des Europäischen Parlaments, zurück zu Zeiten eines innerstaatlich und für den Einzelnen nicht unmittelbar anwendbaren Völkerrechts, weg von einem supranationalen Unionsrecht. Das Supranationale war und ist aber das Besondere, das faszinierende Charakteristikum des Unionsrechts: eine echte übernationale Rechtsordnung, die unmittelbar Rechte und Pflichten zu begründen vermag.

Man muss nicht einen ungeheuerlichen Krieg überlebt oder die Willkür einer Diktatur erlebt haben, um die Friedenskraft und Rechtsstaatlichkeitsgarantie der Europäischen Integration schätzen zu wissen. Diese Perspektive würde allerdings manchen zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Wer aber dennoch nach dem Dogma der ehemaligen britischen Premierministerin Theresa May ("Wer glaubt, er sei ein Weltbürger, ist in Wahrheit ein Bürger aus dem Niemandsland", Parteitagsrede im Jahr 2016) die Europäische Integration und die nationale Identität als Gegensätze begreifen will, vermag nicht zu erkennen, dass uns Menschen mehr verbindet als eine bloß zufällige Nationszugehörigkeit.

Roya Sangi, 34, wurde in Teheran geboren und ist Rechtsanwältin für Verfassungs- und Europarecht, sie lebt in Berlin.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4710943
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 06.12.2019/fzg
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.