Geschichte der Europäischen Union:Da ist sogar noch Luft nach oben

Geschichte der Europäischen Union: Rückenwind für Europa: Vor den Wahlen am 26. Mai zeigen die Menschen bei "Pulse of Europa", dass ihnen das Projekt viel bedeutet. Gute Bücher können dabei hilfreich sein.

Rückenwind für Europa: Vor den Wahlen am 26. Mai zeigen die Menschen bei "Pulse of Europa", dass ihnen das Projekt viel bedeutet. Gute Bücher können dabei hilfreich sein.

(Foto: AFP)
  • Der Historiker Kiran Klaus Patel nähert sich in seinem Buch behutsam dem Einmaligen des "Projekts Europa" an.
  • Es geht um eine "Kultur des Kompromisses", um die Mühen der Kooperation und um wechselseitiges Vertrauen.
  • Dieser kluge Kommentar zum Thema "Elite" und "Brüssel" war überfällig.
  • Ein kompositorischer Kniff unterscheidet das Buch wohltuend von der Vielzahl staubtrockener Europastudien.

Rezension von Bernd Greiner

Historiker gehen mit dem Attribut "einzigartig" aus guten Gründen vorsichtig um, verweisen auf ortsübergreifende Parallelentwicklungen oder auf frappierend ähnliche Ereignisse in unterschiedlichen Epochen. Auch der in Maastricht lehrende Kiran Klaus Patel ist für seinen distanzierten Tatsachenblick bekannt.

So nüchtern seine jüngste Untersuchung wieder einmal anmutet, sie lebt von einem bei ihm ungewohnten Ton. Nämlich von Bewunderung, wenn nicht Begeisterung für ein Unterfangen, das tatsächlich einmalig ist, aber dennoch von vielen für beliebig und darum verzichtbar gehalten wird. Gemeint ist das "Projekt Europa", die Chiffre für ein Experiment mit offenem Ende und ständigem Neubeginn.

Bevor er diesen Kern freilegt, räumt Patel mit allerlei Mythen und überzogenen Selbstbildern auf. Ja, am Anfang standen die Schockerfahrungen des Zweiten Weltkriegs und das Entsetzen über die giftigen Hinterlassenschaften des Nationalismus. Einen nennenswerten Beitrag zum Frieden konnte die Europäische Gemeinschaft in ihren jungen Jahren aber nicht leisten. Eingebunden in die Blocklogik des Kalten Krieges vertiefte sie gar die Spaltung Europas - ein Aspekt, der angesichts der historischen Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich und des "Binnenfriedens" in Westeuropa allzu leicht übersehen wird.

Ja, anfänglich ging es auch um die Zähmung wirtschaftlicher Egoismen, die in früheren Jahrzehnten entscheidend zur Verwüstung demokratischer Kulturen beigetragen hatten. Fraglich aber ist, ob der politische Einigungsprozess einen nennenswerten Beitrag zur ökonomischen Konsolidierung in den Mitgliedsstaaten leisten konnte.

Irritierend auf den ersten Blick, sind diese und weitere Thesen Patels doch allesamt gut begründet. Ihre Präsentation anhand von acht Fallbeispielen - die jeweils für sich stehen, also unabhängig voneinander gelesen werden können - vertieft das Verständnis für die europäisierende Dynamik im Detail, ohne das Große und Ganze je aus dem Blick zu verlieren. Allein dieser kompositorische Kniff unterscheidet das Buch wohltuend von der Vielzahl staubtrockener Europastudien, deren Lektüre eigentlich nur Experten zuzumuten ist. Dass Patel eine unverbrauchte Wissenschaftsprosa beherrscht, tut ein Übriges.

Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit ist die behutsame Annäherung an das Einmalige des "Projekts Europa". Es geht um eine "Kultur des Kompromisses", um die Mühen der Kooperation und um wechselseitiges Vertrauen. Dergleichen entsteht nicht auf der großen Bühne oder durch die Verkündung eines Masterplans. Erforderlich ist, wie Patel zu Recht betont, ein Dauergespräch auf vielen Ebenen und der regelmäßige persönliche Kontakt der Verantwortlichen.

Patel: Projekt Europa

Kiran Klaus Patel: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte. Verlag C. H. Beck, München 2018. 463 Seiten, 29,95 Euro. E-Book: 24,99 Euro.

(Foto: C.H. Beck)

Sobald Generationen von Diplomaten und Experten in einen kollektiven Lernprozess eingebunden werden, verändert sich der politische Aggregatzustand - zu Lasten des Absoluten und Unbedingten, zugunsten eines Bewusstseins gemeinsamer Anliegen und Verpflichtungen. Dieser kluge Kommentar zum Thema "Elite" und "Brüssel" war überfällig, allein deshalb sollte das Buch in den Kanon staatsbürgerlicher Bildung aufgenommen werden.

Quasi im Vorbeigehen hat der Autor der Historikerzunft auch noch ein wichtiges Thema für künftiges Forschen auf den Weg gegeben. Denn wie "Vertrauensarbeit" personell, institutionell und operativ tatsächlich vonstattengeht, darüber gibt es beklagenswert wenig Literatur.

In den frühen 1950er Jahren gingen Hunderttausende für Europa auf die Straße

Die Erträge des "Projekts Europa" indes liegen offen zutage. Dass nationale Interessen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern durch wetterfeste Verfahren und in friedlicher Weise ausgeglichen werden, ist bemerkenswert genug. Unerhört ist, dass allen Rückschlägen und Konflikten zum Trotz seit mehr als 60 Jahren eine Erfolgsgeschichte zu Buche steht - nicht zuletzt durch das im Hintergrund verlässlich wirkende europäische Recht.

Und unersetzlich ist die Zähigkeit kleinteiliger Arbeit, die Entgiftung von Kontroversen und die Aufgeschlossenheit für ungewohnte Herausforderungen. Weil die außenpolitische Kooperation - Georges Pompidou und Willy Brandt sei Dank - seit den frühen 1970er-Jahren auf neue Fundamente gestellt wurde, leistete die Gemeinschaft überdies einen erheblichen Beitrag zur Dämpfung der aufgeblasenen Streitereien zwischen Washington und Moskau. Umso mehr wünscht man sich nach der Lektüre etwas mehr Vergangenheit in der Gegenwart.

Andererseits ist Lernen aus der Geschichte eine vertrackte Angelegenheit und nicht jedermanns Sache. Ansonsten hätten sich die "Brexiteers" mit Blick auf den hausgemachten wirtschaftlichen Niedergang Algeriens - eine unmittelbare Folge des seit 1962 vollzogenen Austritts aus der damaligen EWG - vielleicht eines Besseren besonnen. In dieser Hinsicht wird eine zu wünschende Übersetzung des Buches ins Englische nicht mehr viel bewirken können.

Vielleicht inspiriert Patel aber die Ratlosen unter den Kontinentaleuropäern, die sich an der elitären Kabinettspolitik der Gemeinschaft mit guten Gründen reiben, ohne so recht zu wissen, wie dem Legitimationsdefizit des "Elitenprojekts" beizukommen ist.

In den frühen 1950er-Jahren gingen nicht nur Hunderttausende für Europa auf die Straße. Es wurden ungezählte Sommerlager, Konferenzen und Kongresse angeboten, Foren politischer Inspiration gerade für die junge Generation. Spätestens und ausgerechnet 1968 waren diese Impulse rückstandsfrei verpufft. Wie sie heutzutage reaktiviert werden könnten, diese Frage will und kann Kiran Klaus Patel nicht beantworten.

Aber mit seinem unaufgeregten Buch hat er Bausteine für eine mitreißende Europaerzählung geliefert - und allen Verdrucksten eine gewitzte Frage vorgesetzt: Wenn Geschichte ein stets offener Prozess ist, wieso sollte es dann nicht möglich sein, die wundersamen Kapitel der europäischen Einigung fortzuschreiben?

Bernd Greiner ist Historiker am Berliner Kolleg Kalter Krieg.

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