Brexit-Votum:Die EU muss die Briten gehen lassen

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Katerstimmung nach dem Brexit-Referendum: Wie es nun weitergeht, das liegt noch im Unklaren und sollte allein Sache der Briten sein. (Foto: AFP)

Gehen, bleiben oder eines Tages zurückkehren - das ist Sache der Briten. Die EU kann nicht auf Dauer um den Fall Großbritannien kreisen. Sie hat jetzt anderes zu tun.

Kommentar von Daniel Brössler, Brüssel

Noch sind Briten und Europäer eins. Das ist keine Floskel, sondern eine Tatsache, die sich schon daran ablesen lässt, dass beide sich mit derselben Sache beschäftigen. Die Briten blicken auf die Scherben, die das Brexit-Referendum hinterlassen hat. Nichts anderes tun die übrigen Europäer.

Wenn die Staats- und Regierungschefs an diesem Dienstag - vielleicht zum letzten Mal - mit David Cameron zusammenkommen, wird es darum gehen, was er angerichtet hat. Die Umgangsformen im Kreis der Chefs sind zwar für gewöhnlich höflich, aber Tortur bleibt Tortur.

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Cameron muss noch einmal mit jenen speisen, denen er bis an die Grenze des Erträglich auf die Nerven gegangen ist. Mit jenen, die sich um Flüchtlingsströme sorgten oder Kriege oder Finanzkrisen, und die doch geduldig Camerons Sonderwünsche ertrugen. Cameron verdient eher kein Mitleid, aber der bestgehasste Mann am Tisch zu sein, ist sicher nicht angenehm.

Es wird kaum möglich sein, die Reaktion der EU-Staaten nach einer Kampagne voller Lügen zu trennen von der Reaktion auf den Menschen Cameron. Die Staats- und Regierungschefs werden sich fragen, wozu sie im Februar einen Deal mit Cameron ausgehandelt haben, der seinen Wünschen entgegenkam und doch im Wahlkampf keine Rolle spielte.

Schaden von der EU abwenden

Sie werden sich daran erinnern, dass der Brite sich jegliche Unterstützung von außen verbeten hat, nur um dann seinen eigenen, kümmerlichen Einfluss verspüren zu müssen. Unvergessen, dass EU-Politik über Monate nach dem Prinzip "Rohes Ei" betrieben werden musste: nur nichts tun, woran sich die Briten stoßen könnten. Geduld ist zwar ein erneuerbarer Rohstoff, aber für den britischen Bedarf kann er gar nicht schnell genug nachwachsen.

Vielleicht sollte es mit der Geduld nun auch ein Ende haben. Durch das Referendum ist eine neue Situation entstanden. Zwar bleibt Großbritannien bis zu einem Austritt Vollmitglied, schon deshalb, weil es in der EU keine Teilmitgliedschaften gibt. Das ändert aber nichts an der Schutzverantwortung der verbleibenden 27 Staaten für das restliche Unionsgebilde. Das Referendum mag nicht bindend sein, aber politisch hat es die EU bereits verändert. Die Aufgabe der 27 ist es nun, Schaden von der künftigen EU abzuwenden.

Die EU kann nicht weitere Monate oder gar Jahre um den Fall Großbritannien kreisen. Es ist schwer zu sagen, wie sehr tatsächliche Defizite der EU den Ausschlag für die Wählerentscheidung gegeben haben - dazu war die Kampagne zu sehr der Realität entrückt.

Freilich, es gibt diese Defizite: Die EU weiß nicht, wie sie mit den Migrationsströmen umgehen soll; sie hat kein Mittel gegen die astronomische Jugendarbeitslosigkeit im Süden der Gemeinschaft gefunden; auch die Klagen über das tatsächliche oder vermeintliche demokratische Defizit haben nicht abgenommen.

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Vor dem Referendum war viel von möglichen Nachahmereffekten die Rede gewesen. Die Hilflosigkeit des Brexit-Lagers wirkt nun vermutlich abschreckend genug. Das britische Beispiel bringt die EU nicht um - die Distanz vieler Bürger zur Union auf Dauer womöglich schon.

Schon deshalb muss sich die EU heraushalten, sollte es in Großbritannien nun ernsthafte Versuche geben, das Votum der vergangenen Woche zu ignorieren oder zu korrigieren. Der Respekt für die Entscheidung der Briten ist für die EU von existenzieller Bedeutung. Die Gemeinschaft mag das Vereinigte Königreich als Mitglied verlieren, sie gewinnt aber an Legitimität als freiwilliger Zusammenschluss freier Nationen.

Gehen, bleiben oder zurückkehren - Sache der Briten

Politiker vom Schlage Boris Johnsons würden die EU nun gerne über Jahre in intransparente Verhandlungen verstricken. In diesen Nebel könnten sie dann ihr unhaltbares Versprechen tauchen, dass ein Austritt unter Beibehaltung aller Vorteile möglich ist. Das darf die EU um ihrer selbst willen nicht zulassen.

Natürlich kann die Briten niemand zum Austritt zwingen. Nur sie selbst können Artikel 50 des EU-Vertrages aktivieren. Solange sich London an EU-Recht hält, passiert also gar nichts. Niemand aber kann die EU zwingen, vor einem offiziellen Austrittsbegehren mit Großbritannien zu verhandeln. Das darf in Brüssel nicht passieren und schon gar nicht in Berlin.

Es ist verständlich, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel nun keine Türen zuknallen will. Es kann nicht in ihrem Interesse liegen, wenn Deutschland Gewicht in einer EU ohne Briten noch größer und der Bewegungsspielraum kleiner würden. Doch gefährlicher wäre es, sich in der EU jetzt auseinanderdividieren zu lassen.

Gehen, bleiben oder eines Tages zurückkehren - das ist Sache der Briten. Wenn die EU diese Devise beherzigt, ist sie schon einen Schritt weiter.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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