EU und Migration:Die Sehnsucht nach dem Schutzwall wächst

EU und Migration: Bundesinnenministerin Faeser ist im Krisenmodus angekommen - hier am Dienstag beim nationalen Flüchtlingsgipfel.

Bundesinnenministerin Faeser ist im Krisenmodus angekommen - hier am Dienstag beim nationalen Flüchtlingsgipfel.

(Foto: Jürgen Heinrich/Imago)

Gestiegene Flüchtlingszahlen machen die EU nervös. Droht eine Krise wie 2015? Sogar die deutsche Innenministerin Faeser klingt wie eine Hardlinerin.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Zumindest auf Twitter ist die europäische Welt der Migration in Ordnung. Die EU erscheint als große Familie, die füreinander einsteht und geflüchteten Menschen hilft. Von #EUSolidarity schrieb die für Migration zuständige Kommissarin Ylva Johansson diese Woche, als sie bekanntgab: Mittlerweile wurden mehr als 5000 geflüchtete Menschen, die in Griechenland angekommen waren, über ganz Europa verteilt. Man darf die gute Nachricht nicht missverstehen.

Es handelt sich um ein zwei Jahre altes Sonderprogramm der EU mit dem Ziel, Griechenland besonders hilfsbedürftige Flüchtlinge abzunehmen. Und es handelt sich nicht um Zahlen aus dem "freiwilligen Solidaritätsmechanismus", mit dem die Europäische Union gerade versucht, ihre gemeinsame Migrationspolitik wieder in Gang zu bringen. Davon ist man weit entfernt.

Der Mechanismus, zunächst auf ein Jahr befristet, soll Vertrauen zwischen den Regierungen schaffen. Die Staaten an den Außengrenzen übernehmen mehr Aufgaben bei Erfassung, Kontrolle und Rückführung von Migranten, im Gegenzug nehmen ihnen die anderen Staaten Menschen ab. Das ist der Deal. 19 Staaten aus der EU und vier weitere, die dem Schengen-Raum angehören, unterstützen ihn - einige mit guten Worten, andere mit Geld. 13 Staaten haben angeboten, Menschen aufzunehmen, insgesamt 8000. Was bisher geschah: 38 Migranten wurden im August aus Italien nach Frankreich gebracht, 74 diese Woche von Italien nach Deutschland. Und sonst nichts.

Die Stimmung in Luxemburg war gereizt

"Ein Grund zur Sorge", hieß es aus Kreisen von Diplomaten, die das Treffen des Rats für Inneres am Freitag in Luxemburg vorbereiteten. Denn das Vertrauen, das der Mechanismus aufbauen soll, wird dringend gebraucht in schwierigen Zeiten wie diesen. Das Treffen der Ministerinnen und Minister war geprägt von Flüchtlingszahlen, die befürchten lassen, die EU gerate wieder in eine krisenhafte Situation wie 2015. So eine Krise hätte wohl noch dramatischere Folgen als damals, da sie auf europäische Gesellschaften träfe, die unter dem Eindruck von Energieknappheit, Inflation und Angst vor Arbeitsplatzverlust stehen. Und je mehr Solidarität den ukrainischen Flüchtlingen zuteil wird, desto weniger scheint für andere Nationalitäten übrig zu sein.

Die Stimmung in Luxemburg war gereizt, vor allem mit Blick auf Serbien. Laut EU-Grenzschutzagentur Frontex wurden im September 19 160 irreguläre Einreisen auf der Westbalkanroute registriert, doppelt so viele wie im Vorjahresmonat. Die meisten Migranten stammten aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Allerdings kommen viele aus Ländern wie Burundi oder Indien, die für Serbien keine Visa brauchen, in EU-Staaten an. "Serbien muss seine Visapraxis ändern, jetzt und nicht irgendwann", sagte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser. Sie drohte den Serben sogar mit Nachteilen im Beitrittsprozess. "Sie wollen ja was von der EU." Kommissarin Johansson ließ erkennen, die EU könnte das Visa-Abkommen mit Serbien aufkündigen. Ansonsten sprach sie davon, mehr Beamte der EU-Agentur Frontex an den Grenzen zu den Westbalkanländern einzusetzen.

Johansson steht unter Druck, seitdem Österreichs Kanzler Karl Nehammer der Kommission Versagen vorgeworfen hat. "Warum kümmert sich die Kommission als Hüterin der Verträge nicht endlich darum, dass EU-Recht andauernd gebrochen wird, wenn in einem Binnenland wie Österreich so viele irreguläre Migranten ankommen, die zuvor durch mehrere EU-Länder und sichere Drittstaaten gezogen sind, ohne angehalten worden zu sein?", fragte er im Interview mit der Welt. Viele Mitgliedstaaten sähen das ähnlich. Das war in Luxemburg auch zu spüren.

Wenn Europa nicht funktioniert, handelt jeder Staat auf eigene Faust

Der slowakische Innenminister Roman Mikulec verlangte "ein deutliches Signal", dass die Außengrenzen besser geschützt werden. In seinem Land kommen die meisten Flüchtlinge der Balkanroute an, Österreich und Tschechien haben deshalb Grenzkontrollen eingeführt. Deutschland wiederum setzt die Kontrollen an der österreichischen Grenze fort und verstärkt die Schleierfahndung an der Grenze zu Tschechien. Wenn Europa nicht funktioniert, handelt jeder Staat auf eigene Faust.

Nancy Faeser überging die Frage, ob die Kommission versagt habe. Immerhin handle sie jetzt. Die Ministerin ist im Krisenmodus angekommen. Sie hat am Dienstag den nationalen Flüchtlingsgipfel geleitet. Sie hat am Donnerstag an einer Runde mit Vertretern von Ländern teilgenommen, die von den Flüchtlingszahlen auf der Balkanrunde besonders betroffen sind. Sie wird nächste Woche Gastgeberin der Balkankonferenz sein, wo die Migration eine zentrale Rolle spielen wird. Nur gemeinsam könne die EU Krisen meistern, sagte Faeser. Und die Gemeinsamkeit funktioniert in der Flüchtlingspolitik offenbar nur, wenn die deutsche Regierung auch harte Töne anschlägt.

Mit Forderungen nach einer menschenfreundlicheren Flüchtlingspolitik, wie sie Nancy Faeser zu Beginn ihrer Amtszeit vortrug, steht die deutsche Regierung meist allein in Brüssel. Die Sehnsucht nach dem "Schutzwall" rundum, die Österreichs Kanzler formulierte, wächst in der Krise, die den Kontinent erfasst hat.

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