Europäische Union:Fiebern auf den Aufbruch

Treffen der EU-Außenminister in Brüssel

Ellbogen-Einsatz: Spaniens Außenministerin Arancha Gonzalez Laya beim EU-Treffen in Brüssel.

(Foto: John Thys/dpa)

Die Europäer bereiten sich auf einen Neustart der Beziehungen zu den USA vor, sobald dort der gewählte Präsident Joe Biden sein Amt antritt. Doch in mehreren Mitgliedstaaten regen sich Zweifel an den neuen transatlantischen Plänen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Frauen und Männer, die sich in Washington bis zur Amtseinführung von Joe Biden um die Beziehungen zur Europäischen Union kümmern, haben viel zu tun. Mit "Es wird nicht alles anders werden, aber vieles besser" brachte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) die Hoffnung vieler Europäer auf den Punkt, als er in Brüssel vor die Kameras trat. Die Erwartungen sind wahrlich groß und werden in so vielen Interviews, Gastbeiträgen oder Beschlüssen formuliert, dass es schwerfällt, den Überblick zu bewahren.

Eine "neue Agenda von EU und USA für globalen Wandel" hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bereits vergangene Woche mit der EU-Kommission vorgelegt. Auf elf Seiten wurde Kooperation im Kampf gegen Covid-19 ebenso angeboten wie Einsatz für mehr Klimaschutz und Biodiversität, gemeinsame Standards oder Fortschritte beim Handel. Auf die "strategische Herausforderung" China soll abgestimmt reagiert und der Nukleardeal mit Iran wiederbelebt werden. Am Ende dieser Woche wollen die Staats- und Regierungschefs betonen, "bereitzustehen, um gemeinsame Prioritäten mit dem neuen US-Präsidenten zu diskutieren", wie es im Entwurf der Abschlusserklärung des EU-Gipfels heißt.

Der Begriff "strategische Autonomie" ist umstritten

Wieso auch noch die EU-Außenminister ausführliche Schlussfolgerungen mit ähnlichen Formulierungen verabschieden mussten ("Die EU freut sich darauf, die Zusammenarbeit auszubauen"), erschloss sich nicht allen Mitgliedstaaten. Als "unglücklich" wurde empfunden, dass Borrell nach der Debatte über die transatlantischen Beziehungen zum Mittagessen über "strategische Autonomie" diskutieren ließ - einen umstrittenen Begriff, der unterschiedlich interpretiert wird. Gerade in Ost- und Zentraleuropa wird er als französisches Plädoyer für eine Abwendung Europas von den USA und mögliche Schwächung der Nato angesehen - die Verknüpfung könnte ein falsches Signal senden.

Als "toxische Wortklauberei" bezeichneten jüngst die Sicherheitspolitik-Experten Claudia Major und Christian Mölling die Debatte, die etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) geführt hatten. Wichtiger seien konkrete Investitionen, um den USA zu zeigen, dass man Verantwortung übernehmen könne, etwa in der Cyber-Sicherheit. Manche EU-Diplomaten wünschen sich eine Rhetorik, die näher an der Realität ist: Im EU-Haushalt bis 2027 umfasst der Europäische Verteidigungsfonds zur Förderung von Rüstungsprojekten nur noch sieben Milliarden Euro; auch das Programm für militärische Mobilität wurde gestutzt.

Allzu geschlossen wirken die Europäer derzeit nicht

In den Beschlüssen fehlen die Reizworte "strategische Autonomie": Dort heißt es nun, die EU strebe an, "ihre Fähigkeit zu erhöhen, autonom zu handeln", um die transatlantische Partnerschaft zu stärken und für diese mehr beitragen zu können. Dem lässt sich schwer widersprechen, aber allzu geschlossen wirken die Europäer in diesen Tagen nicht.

Wie wichtig diese Debatte für Josep Borrell ist, hat der EU-Chefdiplomat zuvor in einem langen Text auf seinem Blog dargelegt, der sicher auch in Washington gelesen wird. Der Spanier verschweigt die Vorbehalte "der meisten EU-Staaten" gegenüber dem Begriff nicht, aber will ihn mit "praktischem Inhalt" füllen. Neben besseren militärischen Fähigkeiten müssten etwa auch Abhängigkeiten reduziert werden: von Rohstoffen oder seltenen Erden ebenso wie von Herstellern medizinischer Produkte oder Arzneimitteln.

Unter einem neuen EU-Sanktionsregime sollen künftig Menschenrechtsverletzungen weltweit bestraft werden

Dass die Corona-Pandemie offenlegte, dass in Europa kein "einziges Gramm Paracetamol" mehr hergestellt wird, zählt zu Borrells Lieblingsargumenten. Weil das überalterte Europa mittelfristig an Wirtschaftskraft und Einfluss verliere, müsse es geeinter auftreten, um relevant zu bleiben: "Unter diesem Gesichtspunkt ist strategische Autonomie ein Prozess des politischen Überlebens." Davon hat Borrell noch längst nicht alle überzeugt.

Erwartungsgemäß machten die Minister auch den Weg frei für ein EU-Sanktionsregime, mit dem Einzelpersonen für schwere Menschenrechtsverletzungen weltweit bestraft werden können. Wer etwa für Menschenhandel, Völkermord, Sklaverei oder Folter verantwortlich sei, solle "künftig nicht mehr sorgenlos in Europa shoppen gehen können", sagte Maas. Laut EU-Diplomaten könnten die ersten Personen im Winter 2021 auf die neue Sanktionsliste gesetzt werden. Während viele Europaabgeordnete, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie Mitgliedstaaten wie die Niederlande sich gewünscht hatten, in diesem Fall vom Prinzip der Einstimmigkeit abzuweichen und mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, müssen auch hier alle 27 Regierungen zustimmen, um Maßnahmen wie Einreiseverbote oder die Sperrung von Konten zu verhängen.

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