Wer sich nicht sicher ist, auf welchen Werten die Europäische Union gegründet ist, kann nachschlagen. In Artikel 2 des EU-Vertrages sind aufgeführt: "Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören." Die Frage, ob der Umgang der neuen polnischen Regierung mit dem Verfassungsgericht in Einklang zu bringen ist mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, ist also keine innere Angelegenheit Polens. Im EU-Vertrag ist ein klares Prozedere für den Fall festgelegt, dass "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht". Im Europäischen Rat bedarf eine solche Feststellung nach Artikel 7 einer Vier-Fünftel-Mehrheit und zudem der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Im nächsten Schritt können dem betroffenen Mitgliedstaat bestimmte Rechte entzogen werden. So könnte das Land etwa sein Stimmrecht vorübergehend einbüßen.
Bisher ist das Theorie. Noch nie ist ein EU-Land auf diese Weise gemaßregelt worden und das, obwohl Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit und Treue zur Demokratie immer wieder geäußert werden. Wiederholt musste sich die rechtspopulistische Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán erklären. Im Jahr 2011 gab es Streit über ein Mediengesetz, 2012 waren es eine Justizreform und der Datenschutz. Als Orbán kürzlich unverbindlich, aber laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdachte, wurde es EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu bunt. "Wer die Todesstrafe einführt, hat keinen Platz in der EU", warnte er. Orbán beendete das Gedankenspiel.
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán kam bisher ohne Strafen aus Brüssel davon
Mit Reaktionen auf den Umgang der rechtskonservativen polnischen Regierung mit der Justiz hält sich die EU-Kommission allerdings bislang zurück. Man beobachte die Situation, sagte Junckers Sprecher am Montag knapp. Es sei nun Sache des zuständigen Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, die Lage zu analysieren. "Wenn das geschehen ist, werden wir tun, was nötig ist", wiegelte der Sprecher ab. Etliche Europaabgeordnete sehen die Kommission nun aber in der Pflicht. "Die Kommission ist Hüterin der Verträge", sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok (CDU). Sie müsse also auch über die Einhaltung der europäischen Normen wachen - und was Polen betrifft, sieht Brok Anlass zur Sorge: "Es geht nicht, dass man so lange an Gerichten herumbastelt, bis sie der Mehrheit passen." Auch der SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz mahnt: "Die Rechtsstaatlichkeit darf nicht ausgehöhlt werden." Er wünsche sich eine Einladung an Polens Ministerpräsidentin Beata Szydło. Im EU-Parlament solle sie Stellung nehmen zu den Vorwürfen.
Es gibt im EU-Parlament aber auch Verteidiger der neuen Warschauer Führung, etwa Hans-Olaf Henkel, der für die Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa) zusammen mit Abgeordneten der nun in Polen regierenden Pis in der konservativen Fraktion (EKR) im Europaparlament sitzt. Er sei "ein leidenschaftlicher Anhänger von Demokratie, Unabhängigkeit der Justiz und vor allem der Freiheit" und wundere sich, sagt er, nun über zwei Dinge: "Erstens darüber, dass vor allem deutsche Politiker und deutsche Medien Amok gegen die neu gewählte polnische Regierung laufen und zweitens darüber, wie sich die CDU/CSU im Europaparlament über die Polen hysterisch echauffiert, über Viktor Orbáns Ungarn aber den Mantel des Schweigens breitet." Ob dies etwas mit der Tatsache zu tun habe, dass die ungarische Regierungspartei zusammen mit CDU und CSU der Europäischen Volkspartei (EVP) angehöre? "Im Übrigen habe ich größeres Vertrauen in die Demokratiefestigkeit und in die Freiheitsliebe der Polen als in die der Deutschen", sagt Henkel.
Auf Initiative des früheren deutschen Außenministers Guido Westerwelle gibt es in der EU mittlerweile einen Rahmen für Diskussionen über rechtsstaatliche Defizite, auch wenn nicht gleich mit Artikel 7 gedroht werden soll. Nach Ansicht des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn reicht das aber nicht. "Wir dürfen", sagte er Spiegel Online, "nicht davor zurückscheuen, mit dem Finger auf diejenigen Länder zu zeigen, in denen Grundrechte und Verfassung mit Füßen getreten werden".