Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:"Die übergroße Mehrheit der Deutschen will Europa"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lobt vor dem EU-Parlament in Brüssel die "Leidenschaft fürs Komplizierte" - und damit den Widerstand gegen Populisten und allzu einfache Lösungen.

Von Thomas Kirchner, Straßburg

Vor dem EU-Parlament in Straßburg hat sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Dienstag zum europäischen Engagement Deutschlands bekannt. In Zeiten von "wachsenden Fliehkräften und von lärmenden Untergangspropheten" wolle er "Partei ergreifen für Europa", sagte der SPD-Politiker. Er halte deshalb bewusst seine erste Auslandsrede im neuen Amt an diesem Ort. "Als Bürger bekenne ich, so wie viele Bürger in diesen Wochen neu bekennen: Ja, ich will Europa! Und als Bundespräsident kann ich sagen: Ja, die übergroße Mehrheit der Deutschen will Europa!"

Dieses Europa müsse verteidigt werden, sagte Steinmeier. "Dieses kostbare Erbe, das dürfen wir nicht preisgeben und nicht den Gegnern Europas überlassen." Nicht für seine Generation, aber "für viele unserer Kinder und Enkel" sei Europa längst ein "zweites Vaterland" geworden. Die Demonstrationen der Bewegung Pulse of Europe in vielen europäischen Städten zeigten, dass Europa für viele eine Herzensangelegenheit sei. "Diese Jungen, die haben es satt, dass über Europa nur noch die reden, die es schlechtreden."

Allerdings werde seine Freude, in Straßburg aufzutreten, durch den geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU getrübt, betonte Steinmeier. "Ich finde das bitter, nicht nur als Politiker, sondern zuallererst als Bürger Europas." Er zitierte den konservativen britischen Politiker und erklärten Brexit-Gegner Michael Heseltine, der vom "größten britischen Souveränitätsverlust" durch den Austritt gesprochen hatte. Es sei unverantwortlich, den Menschen vorzugaukeln, dass ein europäisches Land alleine und ohne die Europäische Union mehr Einfluss habe und seine wirtschaftlichen Interessen durchsetzen könne. "Wenn wir Europa nicht zum vollwertigen Mitspieler auf der Weltbühne machen, dann werden wir alle einzeln zum Spielball anderer Mächte." Der ehemalige Außenminister, der 1956, ein Jahr vor der Gründung des vereinten Europas, geboren wurde, zeichnete ein Bild Europas, das mit seiner eigenen Biografie verwoben sei. Er habe das "Wachsen und Werden des neuen Europas" erlebt, aber auch "die Krisen, die Widersprüche und Rückschläge". Sein früherer Glaube, die europäische Einigung sei unumkehrbar, habe sich als Irrtum erwiesen. Durch die Krise bestehe nun aber die Chance, "Europa endlich einmal so zu sehen, wie es ist - ohne Illusionen, ohne falschen Optimismus, mit allen seinen Stärken und auch Schwächen". Man dürfe Europa nicht "schönreden, und wir müssen auch Widerspruch nicht scheuen. Wer Ja sagt zu Europa, der sagt auch Ja zum Komplizierten und Anstrengenden, zum Unfertigen an Europa."

Die neue Faszination fürs Autoritäre? Er findet sie unverantwortlich

Wie schon in der Antrittsrede nach seiner Wahl beschrieb der Bundespräsident die Politik als mühsames, kompliziertes Geschäft. Es gehe nicht ohne die Annahme, "dass auch andere Recht haben könnten", ohne die "Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen", ohne die "Leidenschaft fürs Komplizierte", die gerade in Straßburg zu finden sei. In dem Zusammenhang wandte sich Steinmeier gegen jene "Kräfte, die immer mit den ganz einfachen Antworten zur Hand sind - der starken Hand, den klaren Feindbildern". Eine neue Faszination des Autoritären greife um sich. "Populisten malen die Welt in Schwarz und Weiß und schlagen aus Ängsten politisches Kapital." Es sei aber unverantwortlich, den Menschen vorzugaukeln, dass man Gefahren wie Terrorismus oder Klimawandel, die keine Grenzen kennen, mit Mauern und Schlagbäumen bannt: "Es ist unverantwortlich, den Menschen vorzugaukeln, dass in einer Welt, die komplizierter wird, die Antworten einfacher werden."

Zur künftigen Gestalt der EU äußerte sich Steinmeier nur vage, warnte aber vor einer "dauerhaften Selbstblockade". Man müsse Raum lassen für jene, "die weitere Integrationsschritte noch nicht mitgehen können oder wollen". Europa ruhe auf einem festen normativen Fundament. Deshalb dürfe es auch nicht schweigen, wenn der Wissenschaft "die Luft zum Atmen genommen werden soll", sagte Steinmeier unter Verweis auf die Lage der Central European University in Budapest.

Deutschland trage als größter Staat eine besondere Verantwortung, sagte der Bundespräsident. Das geeinte Europa sei "die einzig gelungene Antwort auf unsere Geschichte und unsere Geografie - für uns selbst wie für unsere Nachbarn". Deutschland wolle die Europäische Union "zusammenhalten", wisse aber auch um die Grenzen seiner Möglichkeiten. Man werde nicht vergessen, "dass andere in Europa Recht haben können, wenn wir über Lösungen streiten".

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SZ vom 05.04.2017
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