Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Die Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft kann sich sehen lassen

Budget, Brexit, das Abkommen mit China - gerade zum Schluss hat sich für die Deutschen in Brüssel viel gefügt. Einen schwerwiegenden Misserfolg müssen sie allerdings hinnehmen.

Von Karoline Meta Beisel, Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Wie viel bei einem Streit auf dem Spiel steht, wird oft erst später klar. Nach dem EU-Gipfel Mitte Dezember in Brüssel priesen alle Staats- und Regierungschefs stolz die europäische Einigkeit - dabei war eine "absolute Katastrophe" gerade noch so verhindert worden, wie Deutschlands EU-Botschafter Michael Clauß kurz darauf erzählte. Erst "auf den letzten Metern" sei es gelungen, den EU-Haushalt bis 2027 sowie den Corona-Hilfsfonds freizugeben.

Ein Scheitern hätte nach Worten von Clauß zu einem riesigen Imageschaden geführt. Und an den Finanzmärkten, wo die Milliardenhilfen längst "eingepreist" waren, wäre Nervosität aufgekommen, zum Schaden hoch verschuldeter Mitgliedstaaten wie Italien.

Das Scheitern wäre auch ein Scheitern der Bundesregierung gewesen, denn Deutschland hat seit Juli und noch bis Silvester die rotierende Ratspräsidentschaft der EU inne. Alle sechs Monate übernimmt ein anderes der 27 EU-Mitglieder die Geschäfte, bestimmt also, wann welches Thema auf die Tagesordnung der Ministerräte gesetzt wird, und moderiert die Verhandlungen.

Doch die Pandemie stellte die Pläne der deutschen Diplomaten auf den Kopf. "Unsere Präsidentschaft wird nicht mehr in der geplanten Art und Weise stattfinden können", schrieb Clauß schon am 6. April in einem internen Brandbrief. Daneben kämpfte die Bundesregierung noch gegen etwas anderes: übertriebene Erwartungen.

Schließlich war es die letzte Ratspräsidentschaft für Angela Merkel, kurz vor Ende ihrer Kanzlerschaft. Und ohnehin war klar, dass die CDU-Politikerin all ihre Erfahrung und ihren Einfluss würde geltend machen müssen, um den Streit über den Sieben-Jahres-Etat beizulegen. Aber manche in Brüssel erwarteten auch, dass Merkel jenseits davon Zugeständnisse anbieten und mehr Mut zur europäischen Integration zeigen werde, da sie bei keiner Wahl mehr antreten muss.

Bei jenen Dossiers, die - wie die Asylpolitik - seit Jahren blockiert sind, hofften viele darauf, dass die Deutschen einen Durchbruch oder zumindest Fortschritte schaffen würden, zumal mit Ursula von der Leyen eine langjährige Ministerin Merkels an der Spitze der EU-Kommission steht. Das Vertrauensverhältnis der beiden Frauen, die sich nahezu täglich SMS schicken, hat fraglos geholfen, aber auch die schiere Größe des Apparats, den ein mächtiges Land wie Deutschland in Brüssel unterhalten kann: 400 Leute arbeiteten zuletzt in der Ständigen Vertretung Deutschlands, fast doppelt so viele wie sonst.

Nach dem EU-Gipfel im Dezember sagte Merkel, man habe den Portugiesen als Nachfolgern bei der Ratspräsidentschaft "noch ein bisschen Arbeit übrig gelassen". Das stimmt, und die Bundesregierung hat auch nicht alle Erwartungen erfüllt - die Bilanz kann sich dennoch sehen lassen.

Abkommen mit Großbritannien und China

Bis Heiligabend hielten die Verhandlungen mit Großbritannien alle in Atem. Hier spielte in Brüssel aber die EU-Kommission die Hauptrolle und nicht der Ministerrat und dessen deutsche Präsidentschaft. Dafür war die Bundesregierung ein wichtiger Antreiber bei einem anderen bedeutenden Vertrag: dem Investitionsschutzabkommen mit China, über das seit sieben Jahren verhandelt wird.

Es war das erklärte Ziel Berlins, während der Ratspräsidentschaft endlich eine Einigung zu erreichen. Und tatsächlich wird nun erwartet, dass sich die EU und China an diesem Mittwoch im Grundsatz auf den Vertrag verständigen. Er soll europäischen Firmen besseren Marktzugang in China gewähren und fairere Wettbewerbsbedingungen schaffen. Außerdem dürfte sich Peking zur Einhaltung von Arbeitnehmerrechten verpflichten.

Ursprünglich war geplant, das Abkommen schon im September bei einem EU-China-Gipfel in Leipzig mit Präsident Xi Jinping zu unterzeichnen. Doch dieses Treffen konnte wegen Corona nicht stattfinden, und ohnehin waren die Verhandlungen nicht weit genug gediehen.

Budget, Rechtsstaatlichkeit und Corona-Hilfen

Bei den EU-Finanzen gelang im zweiten Halbjahr Gewaltiges: Die Mitgliedstaaten und das Europaparlament einigten sich nicht nur auf den mehrjährigen Finanzrahmen, also den groben EU-Etatplan für die kommenden sieben Jahre, sondern auch auf einen 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfsfonds.

Für den soll die Kommission erstmals im großen Stil Schulden machen dürfen; und um diese einfacher begleichen zu können, soll Brüssel neue Einnahmequellen erhalten, etwa eine EU-Steuer für Digitalkonzerne. Das sind enorme Schritte hin zu mehr europäischer Integration. Außerdem erlaubt der neue Rechtsstaatsmechanismus, unter gewissen Umständen Fördermittel zu kürzen, wenn im Empfängerland die Unabhängigkeit der Gerichte bedroht ist.

Der beschwerliche Weg dorthin begann mit einer Kehrtwende Merkels, die im Frühjahr den jahrelangen deutschen Widerstand gegen gemeinsame EU-Schulden aufgab. Die Schwere der Corona-Krise und der Vorwurf, Deutschland mangele es an Solidarität, überzeugten sie offenbar, dass die Krise ohne ein schuldenfinanziertes Hilfsprogramm nicht zu überwinden sei.

Beschlossen wurden dieser Corona-Hilfsfonds und der EU-Haushalt beim historischen EU-Gipfel im Juli. 91 Stunden dauerte es, bis Merkel und ihr wichtigster Mitstreiter Emmanuel Macron, der französische Präsident, den Widerstand von Staaten wie Österreich oder den Niederlanden überwunden hatten: Sie wollten anstelle von Zuschüssen nur Kredite aus dem Fonds vergeben.

Die nächste Hürde war das unzufriedene EU-Parlament: Die Abgeordneten wollten einen höheren Etat und drohten als Mitgesetzgeber ein Veto an. Clauß verhandelte elf Wochen - am Ende gab es 15 Milliarden Euro zusätzlich für EU-Programme wie Erasmus, Studenten-Stipendien für Auslandssemester.

Kaum war die Einigung da, blockierten Ungarn und Polen Haushalt und Corona-Fonds in dem Versuch, den Rechtsstaatsmechanismus abzuschwächen. Nach drei Wochen Hoffen und Bangen handelte Merkel Mitte Dezember eine Zusatzerklärung aus, welche die Bedenken Budapests und Warschaus anspricht. Die Krise wurde beigelegt, Etat und Corona-Fonds werden in Kraft treten.

Corona-Koordinierung

Schon früh in der Corona-Krise gelobten die Mitgliedstaaten, sich bei der Bekämpfung der Pandemie besser abzusprechen. Bilder wie die aus dem Frühjahr, als sich an geschlossenen Grenzen der Verkehr staute, sollten sich nicht wiederholen.

Aber auch den Deutschen gelang es nicht, mehr Koordination durchzusetzen - zu Hause waren sich oft ja nicht einmal die Bundesländer einig. Im Sommer merkte man das an den unterschiedlichen Reiseregeln zwischen EU-Staaten und während der zweiten Corona-Welle im Spätherbst daran, dass Ausgangsbeschränkungen oder Quarantäne-Vorgaben überall unterschiedlich waren.

Immerhin konnte die EU-Kommission Ende Dezember einen ersten Impfstoff für Europa zulassen. Dass den nun alle Mitgliedstaaten gleichzeitig bekommen, geht allerdings auf einen Vorschlag der Kommission vom Juni zurück und nicht auf Deutschland. Die Bundesregierung hatte sich vorher nur mit Frankreich, Italien und den Niederlanden verbündet.

In Brüssel rechnet man es den Deutschen jedoch hoch an, überhaupt den Betrieb des Ministerrats aufrechterhalten zu haben - auch wenn wegen eines Mangels an Räumen und Videotechnik viel weniger Sitzungen möglich waren als geplant. Kroatien, das im ersten Halbjahr zum allerersten Mal die Ratspräsidentschaft innehatte, war mit der Organisation noch überfordert gewesen.

Klima und Landwirtschaft

Mitte Dezember einigten sich die Staats- und Regierungschefs auch auf ein neues Klimaziel für das Jahr 2030 - um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 sollen die Emissionen bis dahin sinken. Die Verhandlungen auf allerhöchster Ebene führt Ratspräsident Charles Michel, aber dass Deutschland sich dem ehrgeizigen Vorschlag der EU-Kommission anschloss, dürfte auch andere Länder ermutigt haben.

Zu den größten Emittenten von Treibhausgasen gehört die Landwirtschaft. Bei der künftigen EU-Agrarpolitik schmiedete Ministerin Julia Klöckner (CDU) jedoch einen Kompromiss, an dem sich die Geister scheiden. Umweltverbände klagen, die Einigung der Mitgliedstaaten schreibe eine Landwirtschaft fest, bei der sich Fördergeld vor allem nach der Fläche bemisst und nicht dem Klimaschutz dient. Klöckner und viele Bauern- und Agrarverbände feiern das Ergebnis allerdings als Riesenerfolg.

Flüchtlingspolitik

Der Druck auf Deutschland, beim Dauer-Streitthema Migration Fortschritte zu erzielen, war ohnehin groß - nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos stieg er noch einmal deutlich. Nachdem die EU-Kommission im September, später als geplant, ihre Vorschläge für die Reform des europäischen Asylsystems veröffentlicht hatte, kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer an, noch vor Weihnachten eine politische Einigung erzielen zu wollen.

Dieses Ziel hat der CSU-Politiker nicht einmal im Ansatz erreicht - das hatte außer ihm aber auch kaum einer erwartet. In der Sache sind die Mitgliedstaaten einander kaum nähergekommen. Ein hochrangiger EU-Diplomat sagt, bis zu einer Einigung werde es eher Jahre als Monate dauern.

Außen- und Sicherheitspolitik

In der Außenpolitik war Deutschlands Einfluss geringer als noch 2007 bei Merkels erster Ratspräsidentschaft, denn nun gibt es das Amt des EU-Außenbeauftragten. Stolz ist Berlin vor allem auf das neue Sanktionsregime bei Menschenrechtsverstößen. Personen, die foltern oder für Völkermord und Menschenhandel verantwortlich sind, können künftig mit Einreisesperren bestraft werden.

Zur Bilanz gehören auch Themen, die außerhalb Brüssels nur Experten kennen, aber trotzdem wichtig sind - wie die "Pesco-Drittstaatenbeteiligung". Berlin konnte ein Verfahren durchsetzen, mit dem Nicht-EU-Staaten wie die USA oder Großbritannien an europäischen Verteidigungsprojekten teilnehmen dürfen: ein weiterer Erfolg für eine Ratspräsidentschaft, die sich mit schwierigen Bedingungen und heiklen Themen herumschlagen musste. Bis Deutschland das nächste Mal an der Reihe ist, wird es dauern: Wenn alles nach Plan läuft, wird das erst 2034 der Fall sein.

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