Süddeutsche Zeitung

Europa:Die EU wird zu einer echten Solidargemeinschaft

Massive Hilfen für die wirtschaftlich schwächeren Mitglieder sind ein wichtiger Erfolg und senden ein Signal der Geschlossenheit. Nun hat Europa die große Chance, ganz viel richtig zu machen - oder auch ganz viel falsch.

Kommentar von Stefan Kornelius

Zwei Eigenschaften zeigt Europa in der Zeit der Krise - eine großartige und eine typische. Großartig ist, dass die EU den Notschrei vernommen hat und zu einer echten Solidargemeinschaft wird. Das Bekenntnis zur Gemeinschaft ist nicht schal, es ist ernst gemeint. Die Nothilfeversprechen der wohlhabenderen Mitglieder, allen voran Deutschlands, sind ernst zu nehmen.

Typisch ist freilich, wie um die präzise Umsetzung der Nothilfe gerungen wird. Eine Gemeinschaft aus 27 Staaten ist eine komplexe Entscheidungsmaschinerie, deren Getriebe immer wieder neu zusammengesetzt wird, und die schon bei viel kleineren Problemen Vorteile und Nachteile gegeneinander zu verrechnen versucht. Das ist weder verwerflich noch uneuropäisch, sondern entspricht der egoistischen Natur von Staaten, aus denen die EU nun mal besteht.

Insofern ist es bereits ein großer Erfolg, dass die Staaten der EU nicht nur ein Hilfspaket über eine halbe Billion Euro beschlossen haben, sondern im Prinzip auch einem zweiten Fonds mit dem schier schwindelerregenden Volumen von vermutlich noch einmal einer Billion Euro zugestimmt haben. 1 000 000 000 000 Euro - über diese Summe darf man gerne ein bisschen nachdenken, ehe man sie beschließt und ausgibt.

Die tatsächliche Bedürftigkeit kann noch gar nicht erfasst werden

Die Diskussion um die Hilfe aus Europa für Europa krankt an zwei Dingen: Erstens wird sie wie eine Art moralischer Ablasshandel betrieben. Je höher die Summe, desto glaubwürdiger soll offenbar die Empathie der wirtschaftlich stärkeren mit den schwächeren Staaten sein. Das ist ein gefährliches Gegengeschäft, weil im gleichen Atemzug Neid und Missgunst entstehen. Da kann Solidarität also schnell in Nationalismus umschlagen. Und zweitens wird hier mit großen Unbekannten gehandelt. Ja, die Finanzmärkte schätzen das Signal der Sicherheit, und für die emotionale Stabilität der Bürger ist es wichtig, dass sie neben der Bedrohung für ihre Gesundheit nicht noch ständig den wirtschaftlichen Abgrund vor Augen haben müssen.

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Aber Europas Hilfspakete werden geschnürt, ohne dass bisher die tatsächliche Bedürftigkeit erfasst werden konnte. Nirgendwo in der EU hat sich die Pandemie verabschiedet, nirgendwo gibt es eine belastbare Berechnung über das wahre Ausmaß der ökonomischen Katastrophe. Corona kann noch monatelang Verheerung bedeuten - oder jahrelang. Wie also will man heute eine verlässliche Aussage darüber treffen, ob Europas Hilfe nun in Form von Krediten oder Geldgeschenken daherkommen soll? Welche Industrien zu retten sind? Welche Programme im neuen Haushalt keinen Sinn mehr machen, welche sehr wohl?

Der Europäische Rat kann und darf deswegen noch keinen Feinschliff für das zweite Rettungspaket anordnen. Wichtig ist das Signal der Geschlossenheit, auch über das Auszahlungsvehikel: den Kommissionshaushalt. Die Tücke liegt nun im Detail, aber der Streit um die Ausdeutung gehört, siehe oben, zur Tradition. Die EU hat nie zuvor so viel Geld mobilisiert, sie stand noch nie zuvor vor einem derart komplexen Problem. Sie hat eine konkrete und beeindruckende Ersthilfe beschlossen, die im Feuereifer gerne klein- oder schlechtgeredet wird. Nun hat sie die Chance, in Ruhe vieles richtig zu machen - oder auch ganz viel falsch.

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SZ vom 25.04.2020/swi
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