Süddeutsche Zeitung

Reform der Europäischen Union:Merkel muss endlich gestalten und nicht verwalten

Die EU ringt heute in Brüssel um die nächste große Reformphase. Die Bundeskanzlerin sollte jetzt ihr Bild vom Europa der Zukunft präsentieren - wenn sie eines hat.

Kommentar von Daniel Brössler

Die Verhandlungen über die Zukunft haben begonnen. Von ihnen wird viel abhängen für die Sicherheit der Menschen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, den Schutz des Klimas und den sozialen Zusammenhalt. Die Augen richten sich auf Kanzlerin Angela Merkel, wiewohl sie alleine nicht für einen Erfolg garantieren kann. Viele Parteien sitzen am Tisch, deutlich mehr als die vier bei den Koalitionsgesprächen in Berlin.

Während in Berlin die Jamaika-Sondierungen begonnen haben, berät die Europäische Union über eine ganz andere Form der Koalition. Es beginnt eine neue Etappe der Reformen. Für Merkel markiert der Gipfel am Donnerstag und Freitag eine Unterbrechung ihrer Regierungsbildung zu Hause. Doch der innere Zusammenhang ist nicht zu leugnen: Ohne einen frischen Start in der EU wäre eine neue deutsche Koalition weniger wert.

Unvermeidlich ist, dass die Verhandlungen in Deutschland jene in Europa zunächst einmal verlangsamen. Es gehört zwar zum Alltag der EU, dass Mitgliedsländer wegen einer sich hinziehenden Regierungsbildung in Brüssel handlungsunfähig sind. Weil Deutschland aber eine zentrale Rolle einnimmt, arbeitet die EU nun insgesamt gebremst.

Dennoch liegt auch eine Chance darin, dass die Regierungsbildung in Berlin und der Richtungsstreit in Brüssel zur selben Zeit ablaufen. Die EU wird in den Koalitionsverhandlungen eine deutlich größere Rolle spielen müssen als im Wahlkampf. Von der neuen Bundesregierung dürfen die Bürger, übrigens nicht nur in Deutschland, erwarten, dass sie vom ersten Tag an europapolitisch handlungsfähig ist.

In Berlin und Brüssel wird die Zukunft verhandelt

Diese deutsche Europapolitik kann aber nicht nur aus Kompromissen zwischen Union, FDP und Grünen erwachsen. Die Kanzlerin muss den Willen entwickeln, aus dem Modus der Krisenverwalterin in den der Gestalterin zu wechseln. Angela Merkel ist eine Antwort schuldig auf die Europarede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. In einer ersten Reaktion hatte sie von einer "guten Grundlage" gesprochen und gesagt, Deutschland werde sich in die Diskussion zur Zukunft der Euro-Zone noch "mit eigenen Elementen einbringen". Das klingt gewohnt kleinteilig. Für deutsche Kanzler mag die Scheu vor Visionen zum guten Ton gehören, aber Merkel muss endlich ihr Bild vom Europa der Zukunft präsentieren. Wenn sie eines hat.

Macrons Rede hat ihre Wirkung nicht entfaltet, weil er brandneue Ideen vorgelegt oder in jedem Punkt unerhört ambitionierte Ziele abgesteckt hätte. Sie war stark, weil Macron seine Präsidentschaft mit einem Konzept von der Zukunft der EU verknüpft hat. Über dieses Konzept kann man streiten. Genauso wie über die Pläne, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgelegt hat. Bemerkenswert ist, dass Ratspräsident Donald Tusk die Konflikte nicht unter Teppich kehren, sondern auf den Gipfeltreffen austragen lassen will. Es werden dort sehr unterschiedliche Anschauungen aufeinaderprallen - von den Ideen Macrons bis zu den Vorstellungen des ungarischen Nationalisten Viktor Orbán. Wenn Merkel diese Arena betritt, sollte sie mehr dabei haben als eine Sammlung von Spiegelstrichen.

Für Europa geht es darum, dem Migrationsdruck standzuhalten, ohne zur Festung zu verkommen. Im Inneren wird man nur frei reisen können, wenn die Außengrenzen gemeinsam geschützt werden. Die Bewegungsfreiheit für Arbeitnehmer muss bleiben, aber soziale Spannungen dürfen nicht wachsen. In Ländern wie Polen,Ungarn, aber auch Malta, steht die EU als Gemeinschaft des Rechts auf dem Spiel. Europa muss in der gefährlichen Welt der Trumps und Erdoğans eigene Interessen wahren. Der Euro-Raum braucht wirtschaftliche Führung. Da reicht das deutsche Mantra nicht aus, wonach die EU nicht zur Haftungsgemeinschaft verkommen dürfe. Wenn der Euro und die EU scheitern, haften am Ende alle.

Die Kanzlerin könnte versucht sein, angesichts dieses Problempakets so weiter zu machen wie bisher. Sie ist es gewohnt, die Dinge nacheinander abzuarbeiten und sich dabei möglichst wenig in die Karten schauen zu lassen. An weit reichenden Zielen wird man gemessen; das ist ein Risiko. Eine Rede vergleichbar mit der Macrons ist von Merkel nie zu hören gewesen. Zum einen, weil ihr die Macht des Worts nur eingeschränkt zu Gebote steht. Zum anderen aber auch, weil sie wohl keinen Sinn darin sah, hehre Ziele zu proklamieren. Sie vertraute darauf, dass die Bürger ihrer Europapolitik vertrauen. Tatsächlich glaubt eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland an den Sinn der EU. Sie wissen auch, dass von Deutschland viel verlangt wird. Angela Merkel sollte den Mut aufbringen, mit ihnen darüber zu sprechen.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2017/eca
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