Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Bühne frei für Bulgarien

Nicht gerade ein Musterland, aber ein engagiertes Mitglied der EU: Der Balkanstaat übernimmt den Ratsvorsitz. Seine größte Herausforderung dürfte die laufende Reform der Union werden - bis Juni werden entscheidende Weichen gestellt.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Die eigentliche Aufgabe einer EU-Ratspräsidentschaft besteht darin, das politische Geschäft der Union zu organisieren. Also Themen auf den Tisch zu legen, Zögernde zu bearbeiten, Kompromisse zu schmieden. Aber das zwischen den EU-Staaten halbjährlich rotierende Amt ist auch eine Art Schaufenster. Estland, das nun abtritt, konnte Spektakuläres präsentieren: Stabilität, Wachstum und eine Geschichte als digitales Wunderland, die sogar in die Weihnachtsausgabe des amerikanischen Magazins New Yorker gelangte, mit viel Lob und Preis.

Die Bulgaren, die am ersten Januar den Stab von Estland übernehmen, werden sich sicher ebenso viel Mühe geben wie die hippen estnischen Diplomaten, die in Brüssel auch mal in die Sauna luden, um ihre neueste Initiative vorzustellen. Aber der Balkanstaat lässt sich nicht so flott verkaufen. Elf Jahre nach dem Beitritt ist er, trotz Wachstumsraten zwischen drei und vier Prozent in jüngerer Vergangenheit und einer Arbeitslosigkeit von unter sechs Prozent, noch immer das ärmste Mitglied der Europäischen Union. 2016 lag das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner bei 6800 Euro, weit hinter dem EU-Durchschnitt von 29 100 Euro. Mit 78,2 Jahren haben Bulgarinnen derzeit auch die geringste Lebenserwartung in der EU. Fast ein Fünftel der Bevölkerung ist seit dem Ende des Kommunismus ausgewandert.

Die verbliebenen sieben Millionen plagt neben der Armut noch ein anderes Problem. Sie können dem Rechtsstaat nicht vertrauen, weil sich viele Amtsträger bestechen lassen. Auf der Korruptionsliste von Transparency International schnitt Bulgarien 2016 mit Rang 75 am schlechtesten ab von allen EU-Staaten. Laut einem Bericht des Zentrums für Demokratie-Studien in Sofia war jeder fünfte erwachsene Bulgare schon einmal Teil einer Bestechungsaktion. Die Justiz kann oder will kaum einschreiten.

In Brüssel freut man sich, dass Bulgarien in der Migrationskrise keinen Ärger gemacht hat

Dass das Anti-Korruptions-Gesetz, das soeben verabschiedet wurde, daran etwas ändert, glauben in Sofia nur wenige, geschweige denn in Brüssel. Dort freut man sich, dass der osteuropäische Staat zuletzt nie Ärger machte. In der Migrationskrise hat Bulgarien brav die EU-Außengrenze gesichert, zugewiesene Schutzsuchende aufgenommen und sich auch sonst nie ostentativ gegen den Willen der großen Mitgliedstaaten gestellt. "Wenn es in Brüssel ein Dossier gibt, und die Deutschen haben eine klare Position dazu, dann stimmen wir mit den Deutschen", zitiert der österreichische Standard den ehemaligen Justizminister Hristo Iwanow. "Und andernfalls so, wie es die EU-Kommission tut." Hinsichtlich der Rechtsstaatsprobleme belässt es die Kommission bei regelmäßigen Ermahnungen, worin manche EU-Beobachter angesichts der Empörung über Polen oder Ungarn "doppelte Standards" erkennen. Nützlich mag auch sein, dass die Partei des proeuropäischen Premiers Bojko Borissow zur Fraktion der mächtigen europäischen Christdemokraten zählt.

Bulgarien kann sich nun bedanken, indem es die laufende EU-Reform voranbringt. Bei den Themen Euro und Migration sollen bis Juni entscheidende Weichen gestellt werden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3808652
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.12.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.