Europäische Krise:Leiden der Jungen

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Demonstranten in Athen: Junge Menschen sind es, die von der Krise am härtesten getroffen werden. (Foto: AFP)

In den Krisenländern Europas sind es die Jungen, die am meisten leiden. Als historisches Schreckbild wird dabei Deutschland zu Beginn der Dreißigerjahre aufgerufen. Taugt der Vergleich?

Von Gustav Seibt

In allen Krisenländern am Mittelmeer, in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, sind es die Jungen, die überproportional leiden, die um die entscheidenden Jahre von Berufsbeginn, Emanzipation von den Eltern, Familiengründung gebracht werden - Jahre, die in keiner Biografie wieder eingeholt werden können.

Das Potenzial an Enttäuschung und Wut, das hier angehäuft wird, ist zerstörerisch. Kinder büßen für die Sünden ihrer Eltern, das gilt vor allem in Griechenland: Die Arbeitslosigkeit bei den unter Dreißigährigen ist derzeit fast doppelt so hoch ist wie bei der Gesamtbevölkerung - etwa 50 gegenüber 25 Prozent. Und wer dort heute 20 Jahre alt ist, hat schon ein Viertel seines Lebens unter der Krise verbracht.

Renzi und Tsipras sind ein ermutigendes Zeichen

Das Verrückte daran ist, dass die von der EU verlangten Reformen, die erst einmal so weh tun, langfristig vor allem den Jüngeren zugute kommen sollten. Denn schon vor der Krise waren die Arbeitsmärkte im Süden, vor allem in Italien, altenfreundlich und jugendfeindlich: Kündigungen waren fast unmöglich, Neueinstellungen entsprechend schwer; Gewerkschaften und Parteien verteidigen Besitzstände von Arbeitsplatzinhabern. Darin spiegeln sich auch die Stimmverhältnisse in überalterten Gesellschaften, in denen die Jüngeren bei Wahlen weniger Gewicht haben als ältere Arbeitnehmer und Rentner.

Dass seit Kurzem zum ersten Mal in zwei wichtigen Mittelmeerstaaten junge Ministerpräsidenten wie Matteo Renzi und Alexis Tsipras an die Macht sind, ist ein ermutigendes Zeichen. Doch während der Italiener Renzi auf eine marktwirtschaftliche Dynamisierung seines Landes setzt, weiß bisher niemand genau, was Tsipras wirtschaftspolitisch will - eher, was er nicht will.

Das historische Schreckbild, das immer wieder zum Vergleich für die aktuelle Krise dient, sind die Verhältnisse gerade in Deutschland zu Beginn der Dreißigerjahre, vor der sogenannten Machtergreifung Hitlers. Auf dem Höhepunkt der Krise waren die Zahlen damals noch weit verheerender als heute am Mittelmeer: Das Deutsche Reich hatte 1932 eine Arbeitslosenquote von unvorstellbaren 43 Prozent, die reale Zahl der Unbeschäftigten näherte sich der Grenze von acht Millionen.

Die USA, die in der selben Zeit ebenfalls schwer litten, erreichten "nur" die heutigen griechischen Zahlen (25 Prozent). Jeder, der sich von dieser Zeit ein erstes Bild machen will, sollte Florian Presslers wunderbar anschauliches Buch "Die erste Weltwirtschaftskrise" (Verlag C.H. Beck, 2013) lesen.

Mit Blick auf diese Verhältnisse schrieb der Nobelpreisträger Paul Krugman von "Weimar an der Ägäis" und verglich den Austeritätskurs der EU mit den Reparationsforderungen der Alliierten an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und der Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning seit 1930.

Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Probleme. Die im Versailler Vertrag 1919 nur summarisch festgestellten Reparationspflichten waren 1930 in eine halbwegs tragfähige Form gebracht worden. Das hinderte Brüning nicht daran, ihre Beendigung zu betreiben, die kurz nach dem Ende seiner Kanzlerschaft auch gelang - den Erfolg ernteten seine Nachfolger Franz von Papen und Hitler.

Das Elend Deutschlands habe Brüning als Druckmittel eingesetzt, so eine oft geäußerte Ansicht der Geschichtswissenschaft, um den Versailler Vertragsmächten die Unausführbarkeit ihrer Reparationsforderungen drastisch vor Augen zu führen - ein zynisches Kalkül, das Sigmar Gabriel Ende Juni auch der griechischen Regierung unterstellte, als er sagte, sie habe ihre Bevölkerung "in Geiselhaft" genommen.

Der Nationalsozialismus war eine Bewegung junger Männer

Doch waren die finanziellen Spielräume Deutschlands seit dem amerikanischen Börsen- und Bankenkrach von 1929 rasch sehr klein geworden. Kurzfristige amerikanische Kredite wurden massenhaft zurückgerufen. In Deutschland kam es 1930/31 zu Bankenkrisen mit Hunderten Bankrotten kleiner Sparkassen und vorübergehenden Schließungen aller Finanzinstitute. Hier verschärfte der rigorose Sparkurs Brünings die Lage.

Doch muss auch festgestellt werden, dass es 1930 keinerlei Rettungsmechanismen gab und das Deutsche Reich auf den Finanzmärkten schlicht keinen Kredit mehr hatte - das hat soeben noch einmal Knut Borchardt in der jüngsten Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte festgestellt. Borchardts klassische Abhandlung von 1979 über "Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre" liegt längst auf Englisch vor und könnte auch von amerikanischen Ökonomen gelesen werden.

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Das ändert nichts daran, dass es nicht zuletzt die frustrierte Jugend war, die um 1930 die Kohorten der Republikfeinde, auf der Rechten wie auf der Linken, füllte. Der Nationalsozialismus war eine Bewegung junger Männer wie es nach 1919 der italienische Faschismus gewesen war, der sich vielfach aus entlassenen Elitesoldaten rekrutierte, die den Rückweg ins bürgerliche Arbeitsleben nicht gefunden hatten.

In seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" schreibt der Historiker Hans-Ulrich Wehler, dass die Depression seit 1930 vor allem "die Erwerbstätigen in der Schwer- und Bauindustrie und in den Alterskohorten der Achtzehn- bis Dreißigjährigen traf". 1932, auf dem Höhepunkt der Krise, war knapp ein Drittel der Empfänger der Arbeitslosenversicherung unter 30 Jahre alt. Bei der "Krisenfürsorge" (Sozialhilfe) waren die Verhältnisse nicht anders.

Wer noch bei seiner Familie lebte, hatte gar keinen Anspruch auf die schon 1929 vollkommen überforderte Arbeitslosenhilfe der Weimarer Republik, die nur für 800 000 Bedürftige konzipiert worden war. Die Vergabe der unzureichenden Mittel war an entwürdigende Bedarfsprüfungen gekoppelt.

Wehler stellt fest: "Die tiefe Erbitterung über dieses degradierende Verfahren potenzierte millionenfach denselben Groll. Wie wenige andere Ursachen trug das sozialpolitische Versagen in der krassen Notsituation dazu bei, die Republik zu delegitimieren."

Die heutige Krise hat deutlich andere Gründe

Wer vergleicht, muss auch Unterschiede bedenken. Deutschland hatte, als es 1930 in die Krise fiel, bereits drei existenzielle Schocks hinter sich: Den Verlust des Ersten Weltkriegs mit Millionen Toten und Verwundeten; die Hungerkrise des Winters 1918/19 mit etwa 200 000 Toten; die Inflation von 1923 mit der Vernichtung der Sparvermögen vor allem der Mittelschicht.

All das lag 1930 weniger lange zurück als heute der 11. September 2001. So ist begreiflich, dass der vierte Schock, die Weltwirtschaftskrise mit ihrem Massenelend die Gesellschaft an die Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit führte. Dazu kam das Demütigungssyndrom, in das sich eine Generation von Frontkämpfern durch die moralisierenden Bestimmungen des Versailler Vertrags gestürzt sah. Das Potenzial des Hasses war unermesslich.

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Die heutige Krise am Mittelmeer hat deutlich andere Hintergründe: Im Kern ist sie eine Globalisierungskrise, in Griechenland kommt dazu der Zusammenbruch eines dysfunktionalen staatsklientelistischen Systems. Bankenkrisen und Staatsinsolvenzen konnten bisher vermieden werden. Anders ist auch, dass den jungen Deutschen um 1930 kein durchlässiger europäischer Arbeitsmarkt offenstand - allenfalls gab es die Möglichkeit der Auswanderung, die angesichts der globalen Dimension der Krise wenig verlockend war.

Griechenland hat das Sonderproblem des versagenden Staats. Was teure Ausgabenprogramme bei fehlender Verwaltungseffizienz, überhaupt bei Wettbewerbsungleichgewichten auf längere Sicht eigentlich bewirken sollen, hat noch keiner der heutigen Pseudo-Keynesianer richtig erklären können. Deutschland war 1930 ein Staat mit sehr guter Verwaltung und einer hoch entwickelten, modernen Industrie - Voraussetzungen für einen raschen Wiederaufstieg, die in Griechenland fehlen.

© SZ vom 15.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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