Europäische Flüchtlingspolitik:Darf die EU Flüchtlinge in die Türkei abschieben?

Flüchtlinge in Idomeni

Flüchtlinge in Idomeni, Griechenland

(Foto: AP)
  • Die EU will mit Ankara eine Rückführung von Flüchtlingen aus Griechenland regeln. Dazu soll die Türkei als sicherer Drittstaat eingestuft werden.
  • Ob sie die Bedingungen dafür erfüllt, ist umstritten. Menschenrechtler und das UNHCR sehen die Pläne kritisch.
  • Griechenland müsste laut EU-Kommission trotzdem jedem Flüchtling eine Einzelfallprüfung ermöglichen.

Von Markus C. Schulte von Drach

Etwa 10 000 Flüchtlinge, darunter viele Familien mit Kleinkindern, harren in Griechenland an der Grenze zu Mazedonien aus. Ihre Hoffnung: irgendwie weiter in Richtung Norden zu kommen. Die meisten sind Syrer, etliche kommen aus dem Irak und Afghanistan.

Doch die Grenzen entlang der sogenannten Balkanroute sind weitgehend dicht, viele EU-Länder und Mazedonien blockieren die Weiterreise. Die Flüchtlingskrise hat die Regierungen, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, unter erheblichen Druck gesetzt. Große Teile der Bevölkerungen in den europäischen Ländern sind unwillig, weitere Flüchtlinge aufzunehmen oder, wie in Ungarn und Polen, überhaupt noch welche ins Land zu lassen.

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel, der am Donnerstag beginnt und am Freitag mit dem türkischen Premier Ahmet Davutoğlu fortgesetzt wird, soll nun ein Durchbruch erzielt werden: Die Flüchtlinge, die fast nur noch über die Türkei nach Griechenland gelangen, sollen dorthin zurückgeschickt werden. Dafür würde die EU eine entsprechende Zahl von Syrern aus der Türkei aufnehmen - auf einem kontrollierten Weg wie einer Luftbrücke.

So könnten Flüchtlinge auf EU-Länder verteilt werden, wo sie sich um Asyl bewerben könnten, statt sich Schleppern auszuliefern. Im Gegenzug soll die Türkei mehrere Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge bekommen, Ankara fordert darüber hinaus freien Zugang für türkische Bürger in den Schengen-Raum von Ende Juni an sowie eine Intensivierung der Verhandlungen über den EU-Beitritt.

Da jedoch jeder Mensch das Recht hat, in einem EU-Land um Asyl zu bitten, lässt sich der Plan, Flüchtlinge von Griechenland aus in die Türkei zu schicken, nur realisieren, wenn es sich bei ihr um ein sicheres Land handelt.

Eine Reihe von EU-Staaten führen Listen mit "sicheren Herkunftsstaaten". In Deutschland etwa gibt es Pläne, zum Beispiel Marokko zum sicheren "Herkunftsland" zu erklären, um Marokkaner in ihre Heimat zurückschicken zu können. Für die EU insgesamt ist eine solche Liste geplant.

Sicheres Herkunftsland oder sicherer Drittstaat?

Auch für die Türkei wird diskutiert, dass sie auf diese Liste gehört. Als EU-Beitrittskandidat sollte sie eigentlich schon qua Definition darauf stehen. Wäre das anders, so EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, müssten die seit Jahren laufenden EU-Beitrittsverhandlungen abgebrochen werden.

Kritiker dieser Einschätzung weisen allerdings darauf hin, dass die Türkei gerade deshalb noch kein EU-Mitglied ist, weil noch nicht alle notwendigen "Kopenhagen-Kriterien" erfüllt sind. Dazu müsste sie eine stabile Demokratie sein, in der die Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten gewährleistet sind. Das aber wird gerade in jüngster Zeit in Frage gestellt. So ist etwa der Konflikt mit den Kurden in der Türkei nicht zuletzt aufgrund der Politik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eskaliert. Seine Regierung schränkt die Meinungsfreiheit ein, türkische Regierungskritiker sprechen schon von einer Diktatur.

Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner etwa hat deshalb vor zu großen Zugeständnissen an die Türkei gewarnt. "Natürlich müssen wir mit der Türkei zusammenarbeiten, aber nicht um jeden Preis", sagte Mikl-Leitner am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin". Es gehe darum, die europäischen Werte nicht über Bord zu werfen.

Die Diskussion um die Türkei als sicheres Herkunftsland geht allerdings am eigentlichen Problem vorbei, denn dies beträfe lediglich türkische Flüchtlinge, insbesondere türkische Kurden, die in der EU Asyl suchen. Für syrische Flüchtlinge ist die Türkei nicht Herkunftsland - das ist natürlich Syrien.

Eine andere denkbare Rechtfertigung, Flüchtlinge von Griechenland aus zurück in die Türkei zu schicken, wäre die Anerkennung der Türkei als ein "sicherer Drittstaat".

Etliche EU-Staaten betrachten sich bislang gegenseitig sowie die Schweiz und Norwegen als sichere Drittstaaten. Flüchtlinge, die von einem dieser Länder in ein anderes reisen, erhalten dort kein Asyl, weil sie es im "sicheren Drittstaat" hätten beantragen können. Würde nun Griechenland die Türkei als solchen Staat einstufen, könnte Athen die Aufnahme syrischer Flüchtlinge, die von dort eingereist sind, ablehnen.

"Gäste" oder Asylbewerber?

Voraussetzung für den Status als sicherer Drittstaat innerhalb Europas ist der EU-Asylverfahrensrichtlinie zufolge die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und ein gesetzlich geregeltes Asylverfahren.

Es gibt darüber hinaus allerdings auch die Einstufung als "sonstige sichere Drittstaaten". Dort muss lediglich gewährleistet sein, dass Asylanträge gestellt werden können und anerkannte Flüchtlinge geschützt sind. "Die Regeln erlauben, dass ein Asylantrag derjenigen zurückgewiesen wird, die aus sicheren Drittstaaten kommen", sagt etwa der stellvertretende Chef der EU-Kommission, Frans Timmermans.

In diese Kategorie soll die Türkei fallen. Ankara hat die Genfer Flüchtlingskonvention allerdings mit einem "geografischen Vorbehalt" unterzeichnet: Demnach werden lediglich Flüchtlinge aus Europa als solche anerkannt. Die Syrer wurden deshalb in der Türkei bislang vor allem als "Gäste" bezeichnet. Sie dürfen sich vorübergehend dort aufhalten, während ihr Schutzgesuch vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geprüft wird. Dann sollen sie in dessen Resettlement-Verfahren (Umsiedlungsprogramm) aufgenommen werden.

Kritik vom UNHCR und von Amnesty International

Seit 2013 hat die Türkei auch ein Asylgesetz, demzufolge Menschen, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können, ein vorübergehendes Bleiberecht bekommen können. Bislang sind etwa 2,7 Millionen Syrer in die Türkei geflohen. Mehr als zwei Millionen von ihnen versuchen, sich außerhalb der vom UNHCR betreuten Lager durchzuschlagen. Es ist offen, wie die Türkei die vom UNHCR geforderte "substanzielle Prüfung des Asylgesuchs" übernehmen und bei einer Anerkennung den "vollen und effektiven Zugang zu Bildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung und wenn nötig, sozialer Hilfe", gewährleisten soll.

Darüber hinaus kritisiert das UNHCR, dass das europäische Resettlement "bislang mit Blick auf die tatsächlichen Anforderungen bescheiden (auf freiwilliger Basis 20 000 Plätze innerhalb von zwei Jahren)" bleibe.

Dazu kommt, dass Amnesty International zufolge auch Syrer von der Türkei aus in ihre Heimat abgeschoben werden. Mehr als hundert solche Fälle haben die Menschenrechtler dokumentiert, die Dunkelziffer dürfte höher sein. Damit, so Amnesty, verstoße die Türkei gegen das Völkerrecht. "Überlegungen der europäischen Kommission, die Türkei pauschal als 'sicheres Drittland' einzustufen, sind vor diesem Hintergrund absurd", warnt die Organisation.

Darüber hinaus müsste Griechenland jedem Flüchtling auch aus einem angeblich sicheren Drittstaat eine Einzelfallprüfung zugestehen, in der festgestellt werden muss, ob dieser Drittstaat für ihn tatsächlich sicher ist. Daran könnten etwa syrische Kurden zweifeln. Es müsse ein persönliches Gespräch geben, sagt EU-Kommissionsvize Timmermans, die Person müsse immer ein Recht auf Berufung haben. "Lassen Sie mich glasklar sein: Es kann keine Pauschal-Rückführungen geben."

Amnesty International reicht das nicht. "Dieser Tauschhandel zwischen EU und der Türkei ist menschenverachtend und rechtswidrig", sagt Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der Organisation in Deutschland. Amnesty fordert stattdessen, die bereits bestehenden Umverteilungspläne umzusetzen, sichere Zugangswege in die EU anzubieten und in den Nachbarländern Syriens für die Flüchtlinge Lebensperspektiven zu schaffen.

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