Europäische Finanzkrise:Europa steht in Flammen

Lesezeit: 4 Min.

Deutschland ist einsam und isoliert. Wider alle historische Erfahrung hält Kanzlerin Merkel dogmatisch an einer Sparpolitik fest, die Europa an den Abgrund geführt hat. Wenn der Euro und mit ihm der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt zerfällt, dann wird das eine Krise auslösen, wie sie die heute lebenden Generationen noch nicht erlebt haben.

Joschka Fischer

Die Zeiten sind ernst, sehr ernst sogar. Wer hätte jemals auch nur davon geträumt, dass David Cameron die Regierungen der Euro-Gruppe dazu auffordern würde, endlich all ihren Mut zusammenzunehmen und gemeinsam eine Fiskalunion (gemeinsames Budget, Steuerpolitik, gemeinsame Garantie für die Staatsschulden) und, da es anders nicht geht, auch eine politische Union zu schaffen? Nur so könne ein Zerfall des Euro aufgehalten werden.

Die Bevölkerungen haben den Glauben in die von Deutschland aufgezwungene Sparpolitik verloren. Die Folge sind Proteste wie hier in Italien. (Foto: Getty Images)

Der konservative britische Premierminister! So geschehen kürzlich! Und noch schlimmer daran ist, dass Cameron völlig und uneingeschränkt recht hat! Das europäische Haus steht in Flammen, und London fordert ein vernünftiges und entschlossenes Verhalten der Feuerwehr.

Freilich hat er die Rechnung ohne die Feuerwehr (uns Deutsche) und unsere Feuerwehrhauptfrau Angela Merkel gemacht. Europa, angeführt von Deutschland, löscht lieber weiter mit Kerosin statt mit Wasser, und der Brand wird so mit der von Merkel erzwungenen Austeritätspolitik beschleunigt. Genau deshalb hat sich die Finanzkrise in der Euro-Zone innerhalb von drei Jahren zu einer wirklichen Existenzkrise ausgewachsen.

Und man mache sich keine Illusionen. Europa steht heute am Abgrund und wird in eben diesen in den kommenden Monaten hineinfallen, wenn jetzt nicht Deutschland und Frankreich gemeinsam das Steuer herumreißen und den Mut zu einer Fiskalunion und politischen Union der Euro-Gruppe aufbringen. Denn wenn der Euro zerfällt, wird auch die EU mit ihrem gemeinsamen Markt zerfallen - global der zweitgrößte Wirtschaftsraum - und eine Weltwirtschaftskrise auslösen, wie sie die heute lebenden Generationen noch nicht erlebt haben.

Kein Vertrauen in die Sparpolitik

Die jüngsten Wahlen in Frankreich und Griechenland, aber auch die Kommunalwahl in Italien und die anhaltende Unruhe in Spanien und Irland haben gezeigt, dass die Bevölkerungen den Glauben an die von Deutschland erzwungene Sparpolitik ohne Wachstum längst verloren haben. Wir lernen jetzt erneut auf die harte Tour, dass eine solche Sparpolitik in einer großen Finanzkrise diese nur zur Depression verschärft.

Eigentlich sollte diese Erkenntnis schon seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der damaligen Sparpolitik von Hoover in den USA und Brüning in Deutschland Allgemeingut sein. Leider ist dem nicht so, zumindest in Deutschland nicht.

In der Konsequenz droht Griechenland demnächst im Chaos zu versinken, und der dann einsetzende Sturm auf die Banken in Spanien, Italien und Frankreich wird eine Lawine auslösen, die Europa unter sich begraben wird. Und dann? Schreiben wir dann ab, was mehr als zwei Generationen Europäer investiert haben und was zu der längsten Friedens- und Wohlstandsperiode unseres Kontinents geführt hat?

Eines kann man für diesen Fall bereits jetzt einbuchen, nämlich dass sich mit dem Zerfall des Euro und der EU Europa von der Weltbühne verabschieden wird. Und gerade für Deutschland wird das bittere Konsequenzen haben, was Berlins Politik nur noch absurder macht.

Deutschland und Frankreich haben die Entscheidung über die Zukunft unseres Kontinents in der Hand. Deutschland wird dabei wirtschaftlich und finanziell, Frankreich politisch über seinen Schatten springen müssen, um Europa zu retten. Frankreich wird ja sagen müssen zur politischen Union, und das heißt eine gemeinsame Regierung mit gemeinsamer parlamentarischer Kontrolle in der Euro-Gruppe.

Joschka Fischer ist davon überzeugt, dass die Sparpolitik die Finanzkrise verschärft. (Foto: dpa)

Faktisch haben wir diesen Zustand bereits weitgehend, denn die nationalen Parlamente als Garanten der Haushaltssouveränität kontrollieren, und die nationalen Regierungen in der Euro-Zone agieren bei der Krisenbewältigung heute schon de facto als gemeinsame Regierung.

Und Deutschland muss sich entscheiden für eine Fiskalunion, und das heißt, dass Deutschland schlussendlich das finanzielle Überleben der Euro-Zone mit seiner Wirtschaftsmacht und seinem Vermögen wird garantieren müssen: uneingeschränkter Kauf der Staatsanleihen der Krisenländer durch die EZB, Europäisierung der nationalen Schulden mittels Euro-Bonds, Wachstumsprogramme, um eine Depression in der Euro-Zone zu verhindern und Wachstum zu generieren.

Man kann sich die wüste Polemik in Deutschland über ein solches Programm allzu leicht vorstellen. Noch mehr Schulden! Verlust der Kontrolle über unser Vermögen! Inflation! Das funktioniert alles nicht! Falsch, denn der Boom der deutschen Exportwirtschaft gründet genau auf solchen Programmen in den Schwellenländern und in den USA. Hätten China und die USA seit 2009 nicht massiv und teils schuldenfinanzierte Steuergelder in ihre Volkswirtschaften gepumpt, dann hätte es den Exportboom in Deutschland kaum gegeben.

Die Herausforderung der Strukturreform

Jenseits der Krisenrettung und der notwendigen Wachstumsimpulse gibt es für die Europäer eine dritte Herausforderung: die unabweisbaren Strukturreformen, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas massiv zu verstärken. Politische Union, Fiskalunion, Wachstum und Strukturreformen, diese vier Säulen müssen Europas Antwort auf seine Krise tragen. Und erneut ist es Deutschland, das wiedervereinigte Deutschland, von dem die Entscheidung über die Zukunft abhängt.

Begreifen wir Deutsche unsere gesamteuropäische Verantwortung? Im Moment sieht es nicht danach aus. Deutschland war selten so einsam und isoliert wie gegenwärtig. Kaum jemand versteht noch unsere dogmatische Sparpolitik wider alle Erfahrung, und man hält uns für ziemlich neben der und - einem Geisterfahrer gleich - gegen die Spur fahrend. Noch ist es für einen Wechsel der Politik nicht zu spät, aber die Zeit drängt. Es geht um Tage und Wochen, Monate vielleicht, aber nicht mehr um Jahre.

Im 20. Jahrhundert hat Deutschland zweimal mit Krieg bis hin zum Verbrechen und Völkermord sich selbst und die europäische Ordnung zerstört, um den Kontinent zu unterjochen. Deutschland hat daraus die richtigen Konsequenzen gezogen, und nur so - durch eine glaubhafte Umkehr und die Integration dieses großen Landes in der Mitte des Kontinents in den Westen und die EU - gab es die Zustimmung zur deutschen Einheit.

Es wäre eine Tragödie und Ironie zugleich, wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, diesmal friedlich und mit den besten Absichten, die europäische Ordnung ein drittes Mal zugrunde richten würde.

© SZ vom 04.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: