Europäische Einigung:EU-Verteidigungspolitik wird zum gescheiterten Projekt

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Europa ist politisch uneinig und militärisch nicht in der Lage, einen Krieg zu führen. Das zeigte spätestens der Kampf gegen islamistische Rebellen in Libyen. Anstatt ihr neues Leben einzuhauchen, steuert die EU auf einen Kollaps ihrer Verteidigungspolitik zu.

Eine Analyse von Martin Winter, Brüssel

Jenseits der Turbulenzen um die Währung wird die Europäische Union von einer zweiten Krise geplagt, die Bedeutung und Einfluss der Gemeinschaft in der Welt weiter empfindlich schmälern könnte: Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU steht vor dem Scheitern. Mit Einsätzen wie gegen Piraten vor dem Horn von Afrika hat sich die EU zwar ein wenig Ansehen erworben. Doch sie ist weit entfernt von ihrem eigentlichen Ziel, einen wichtigen Baustein in einer globalen Sicherheitsarchitektur abzugeben.

Im Dezember wollen die Staats- und Regierungschefs einen neuen Anlauf wagen. Was genau geleistet werden kann, darüber haben Diplomaten gerade erst in Rom beraten. Viel klüger sind sie dabei aber nicht geworden. Denn das Grundproblem der GSVP kann niemand aus der Welt schaffen: Die 27 Mitgliedsstaaten der EU haben sehr unterschiedliche Vorstellungen über ihre Sicherheitspolitik und ihre Souveränität in Fragen von Krieg und Frieden.

Wie es um die GSVP bestellt ist, zeigte sich in Libyen. Der Krieg dort "war eine bittere Erfahrung", sagt der stellvertretende Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Maciej Popowski - und zwar in jeder Hinsicht: Politisch wurde Porzellan zerschlagen, weil Frankreich und Großbritannien zum Angriff bliesen, ohne sich mit europäischen Partnern abgestimmt zu haben; und militärisch, weil selbst diese beiden interventionserprobten Länder am Ende auf amerikanische Waffenhilfe angewiesen waren.

Dass die Nato dann den Einsatz übernehmen musste, machte das Desaster komplett. Die Europäer erwiesen sich nicht nur als politisch uneinig. Auch militärisch war offenkundig geworden, dass Europa nicht einmal in der Lage ist, einen begrenzten Krieg zu führen. Europa müsse darum in seine Rüstung "investieren", fordert Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen.

"EU Battle Groups" gibt es auf dem Papier

Libyen legte offen, was Militärexperten schon lange wissen. Die EU hat ihren 2001 aufgestellten Anspruch nie erfüllt: Damals hatte sie sich vorgenommen, militärisch auch "ohne Rückgriff auf die Nato intervenieren" zu können. Deswegen also die Generalinventur 2013. Die Außenbeauftragte der EU, Catherine Ashton, soll bis Juni Vorschläge zur Abhilfe machen. Ideen gäbe es viele - gerade weil die Militärbudgets in Europa stets schrumpfen und die europäische Rüstungsindustrie unter der hausgemachten Konkurrenz leidet. Diese Probleme ließen sich vielleicht lösen, aber eigentlich, so sagt Popowski, geht es um etwas anderes: "Wir müssen uns darüber verständigen, ob Europa ein sicherheitspolitischer Akteur werden soll - oder nicht."

Zwar verbirgt sich hinter der GSVP der feste Wille, dass Europa bei so etwas wie den Balkankriegen nie wieder abseits stehen dürfe. Doch was dieses Europa dann genau leisten soll, blieb bis heute vage. Wirksame Instrumente sind deshalb nie entstanden. So beschloss die EU 1999 zwar, sich bis 2003 "Schnelle Reaktionskräfte" zuzulegen - 60.000 Soldaten sollten innerhalb von 60 Tagen in einem Krisengebiet zum Einsatz kommen können. Bis heute gibt es diese Truppe aber nicht.

Als Ersatz für die Eingreiftruppe kreierte die EU 2004 die "EU Battle Groups", multinationale Kampfgruppen von rund 1500 Mann, die in fünfzehn Tagen am Einsatzort sein sollen. Auf dem Papier gibt es diese Truppe zwar, aber eingesetzt worden ist sie noch nie. Entweder war der Anlass nicht passend oder man war sich nicht einig. Selbst für den Einsatz in Mali wurden sie nicht angefordert, obwohl der Schutz eines Staates vor der Übernahme durch Terroristen exakt in ihr Trainingsprofil passt.

Weil sich offensichtlich immer irgendein Grund findet, die "Battle Groups" nicht einzusetzen, denken die Verteidigungsministern inzwischen über eine Art "Battle Group light" nach. Bis Ende des Jahres - darauf haben sie sich am 23. April geeinigt - soll ein Konzept für eine zusätzliche und permanent einsetzbare "Battle Group" vorliegen. Sie soll aber nicht in einen Kampfeinsatz geschickt werden, sondern bei humanitären Katastrophen oder zur Ausbildung anderer Armeen eingesetzt werden. Darauf wird man sich in der EU politisch verständigen können - vielleicht.

Denn hier liegt die eigentliche Hürde: Die Staaten der EU haben keine gemeinsame Vorstellung von Sicherheitspolitik. Im Vertrag von Lissabon einigten sie sich zwar auf die "schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik". Und im vergangenen November haben die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Spaniens, Italiens und Polens auf eine "ehrgeizige" europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gedrungen. Doch schon bei der Frage, was das eigentlich sein soll jenseits der Nato, gibt es massive Differenzen.

Paris strebt seit Jahren ein "l'Europe de défense" an, also eine EU, die sich nicht nur selber verteidigen, sondern die auch aus eigener Kraft jenseits ihrer Grenzen intervenieren kann. Noch in ihrem im Jahre 2008 für den damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy angefertigten Weißbuch hofften die französischen Militärs auf den Lissabon-Vertrag. Dessen Solidaritätsklausel im Angriffsfall schien das Tor für die europäische Verteidigungspolitik weit auf zu stoßen. Doch Berlin mochte sich mit dem französischen Plan nicht anfreunden. In einem von Sarkozys Nachfolger François Hollande angeforderten Gutachten kommt der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine zu einem bitteren Schluss. Deutschland und Großbritannien setzten lieber auf die USA und zögen es vor, "ihre sklavische oder passive Position" in der Nato beizubehalten. Für die Europäische Verteidigung hätten sie nur "Lippenbekenntnisse" übrig. Sein Vorwurf an Deutsche und Briten: Sie wollen verhindern, dass die EU eine Weltmacht wird.

Dass Paris mit dieser Einschätzung durchaus nicht falsch liegt, bestätigte der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière auf der letzten Sicherheitskonferenz in München. Deutschland, sagte er da, "ist ökonomisch und politisch vor allem in der EU, sicherheitspolitisch vor allem in der Nato zu Hause". Berlin versucht eine Balance zwischen Paris und London: Frankreich solle "Nato-freundlicher und Großbritannien EU-freundlicher werden", so Maizière.

Das allerdings ist eine ziemlich illusionäre Vorstellung: London ist strikt gegen ein Europa der Verteidigung. Nicht einmal ein eigenes Hauptquartier wollen die Briten der rudimentären GSVP für deren Einsatz etwa bei der Piratenjagd vor der Küste Afrikas oder bei der Ausbildung der malischen Armee zugestehen. London besteht darauf, dass die Sicherheit des eigenen Landes aber auch seine Fähigkeit zur Intervention fest in nationaler Hand bleibt. Zur GSVP haben sie ein Verhältnis wie die USA zur Nato: Man bedient sich ihrer, wenn es gerade passt.

Russland gilt noch immer als potenzieller Aggressor

London und Paris sind sich zwar durchaus nahe, wenn es um bilaterale militärische Zusammenarbeit geht. 2010 haben sie darüber sogar einen Vertrag geschlossen - ein Affront gegen Berlin und den Rest der EU. Doch wirklich näher gekommen sind sich die beiden Nationen nie.

Hinzu kommen Komplikationen mit osteuropäischen EU-Mitgliedern, die Europas Sicherheitslage anders einschätzen als die westlichen Mitglieder. Für Balten, Polen, Ungarn oder Tschechen ist Russland immer noch ein potenzieller Aggressor, gegen den sie sich wappnen wollen. Die Idee, zwischen den Ländern zu Spezialisierungen zu kommen, damit nicht mehr jeder das volle Streitkräfteprogramm auf die Beine stellen muss, gerät darum schnell an ihre Grenzen. "Prag dürfte kaum darauf verzichten, sich umfassend gegen einen russischen Angriff zu rüsten", sagt ein Militärexperte in Brüssel. Wohl auch deswegen, weil am ultimativen Beistand gerade etwa der Deutschen gezweifelt wird.

Es gibt also viele Gründe, warum Diplomaten bezweifeln, dass der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik neues Leben eingehaucht werden kann. Eines allerdings halten sie für durchaus realistisch: Dass sich die EU auf eine stärkere europäische Rüstungs-Kooperation verständigt. Denn eine florierende europäische Rüstungsindustrie trüge zu Wachstum und Arbeitsplätzen bei. Eine attraktive Aussicht für alle in der EU.

© SZ vom 07.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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