Süddeutsche Zeitung

Europäische Asylpolitik:Die Empörung über Österreich wächst

Das Nein zum Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien zieht seine Kreise: wütende Reaktionen aus Bukarest und Sofia, massive Kritik aus Brüssel. Und Wien? Provoziert durch einen Deal mit Ungarn.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Der österreichische Innenminister Gerhard Karner fand zu Wochenbeginn starke Worte, als er an der Grenze zu Ungarn eine neue Polizeitruppe vorstellte: Sie solle "auf die Asylbremse treten" und die "Schleppermafia" bekämpfen. "Operation Fox" heißt die Aktion, mit der 30 österreichische Polizisten dem Nachbarland helfen sollen, illegale Migranten aufzuspüren - bei vollen Polizeibefugnissen auch im Ausland, also mit Dienstwaffe und entsprechender Spezialausrüstung. Es sei allerdings, so Karner, die Aufgabe der ungarischen Behörden, die Migranten "zu behandeln oder auch zurückzustellen, nachdem sie ja meistens gar keinen Asylantrag stellen".

Die Operation Fox hat allerdings mehr als einen Haken. Denn Migranten können in Ungarn praktisch keine Asylanträge stellen. Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen festgehalten, dass das Verfahren in den Transitzonen an der ungarisch-serbischen Grenze gegen EU-Recht verstößt und Budapest keinen effektiven Zugang zu Asylverfahren garantiert. Nach offiziellen Angaben wurden in diesem Jahr allein bis September an der ungarischen Südgrenze 178 000 illegale Grenzübertritte verhindert. Asylanträge dagegen gab es im ersten Quartal dieses Jahres genau zehn.

Österreich, Ungarn und Serbien wollen "Asyl à la carte" beenden

Zugleich häufen sich die Berichte über brutale Pushbacks, die Ungarn auch gar nicht dementiert: Ein Dekret von 2016, das sich auf die "Krisensituation aufgrund von Masseneinwanderung" beruft und 2021 verlängert wurde, erlaubt der ungarischen Polizei, irregulär im Land befindliche Menschen abzuschieben. Völkerrechtler wie Migrationsexperten befürchten daher, dass sich österreichische Polizisten strafbar machen und gegen Europarecht wie Völkerrecht verstoßen, wenn sie gemeinsam mit ungarischen Kollegen potenzielle Asylbewerber nach Serbien zurückschicken.

Das ist die Ausgangslage - die man in Wien aber völlig anders darstellt. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat unlängst eine Kampagne gegen "Asyltourismus" gestartet und sich mehrmals mit seinen Counterparts Viktor Orbán aus Ungarn und Aleksandar Vučić aus Serbien getroffen, um den Grenzschutz zu verstärken und "Asyl à la carte" zu beenden. Denn man rechne bis Jahresende mit etwa 100 000 Asylanträgen, die in Österreich gestellt würden; das europäische Asylsystem sei gescheitert. Dass es vor allem Ungarn ist, das Migranten, die es ins Land schaffen, nach Österreich "weiterwinkt", wie einst schon Ex-Kanzler Sebastian Kurz formuliert hatte, stört die Wiener nicht. Eben deshalb müsse man das Übel unter anderem an der ungarisch-serbischen Grenze bekämpfen.

Verhindert werden müsse daher auch das Eindringen von Migranten über Rumänien und Bulgarien, heißt es in Wien. Schließlich seien von den etwa 100 000 Aufgegriffenen im Burgenland und in Niederösterreich mehr als die Hälfte zuvor unregistriert durch eines dieser beiden Länder gereist. Bevor diese Lücken im europäischen "Asylzaun" nicht geschlossen seien, argumentiert man bei der ÖVP, sei auch nicht an eine Erweiterung des Schengenraums zu denken, in dem europäische Staaten keine Kontrollen an ihren Binnengrenzen durchführen. Weshalb Innenminister Karner am 8. Dezember in Brüssel überraschend sein Veto gegen die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schengenraum eingelegt und nur für Kroatien votiert hatte, das ein beliebtes Urlaubsland für Österreicher ist.

Gemeinsame Sache mit dem Rechtsausleger Ungarn, aber eine Brüskierung von Rumänien und Bulgarien, denen eine gute Vorbereitung für den Schengen-Beitritt attestiert wird - diese Vorwürfe stehen jetzt im Raum. Der grüne Koalitionspartner zeigte sich befremdet, Bundespräsident Alexander Van der Bellen bedauerte das Veto "außerordentlich". Unternehmer, Vertreter österreichischer Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, wo viele Bulgaren und Rumäninnen arbeiten, bezeichneten die Entscheidung als kurzsichtig.

"Es gibt nur einen Gewinner, und der sitzt im Kreml"

Zugleich löste die ÖVP-Entscheidung massive bilaterale diplomatische Krisen mit Sofia und Bukarest aus. Österreichische Botschafter wurden einbestellt, österreichische Firmensitze beschmiert, der Boykott österreichischer Produkte wurde verlangt, das Veto Wiens mit der Erpressungspolitik durch Veto-Fan Orbán verglichen. Die rumänische Regierung wies mehrmals darauf hin, dass das Nein aus Wien völlig überraschend gekommen sei, noch Wochen zuvor und auf zahlreichen gemeinsamen Sitzungen in zahlreichen europäischen Gremien habe die Wiener Regierung zuvor keinerlei Zweifel an der Einbindung von Bulgarien und Rumänien in den Schengenraum geäußert, ja sogar Zustimmung signalisiert.

Zudem kann man weder in den beiden Hauptstädten noch bei Frontex die Berechnungen aus Wien nachvollziehen; die Zahlen stimmten schlicht nicht, heißt es. Im Europaparlament wurde das Nein Österreichs zur Schengen-Erweiterung um Rumänien und Bulgarien am Dienstagabend daher noch einmal massiv kritisiert. Viele Abgeordnete beklagten eine Diskriminierung der Staaten, die aus "rein innenpolitischen Gründen" gefallen sei. Sogar EU-Kommissarin Ylva Johannson wetterte, "wir alle haben bei der Abstimmung vergangene Woche verloren. Es gibt nur einen Gewinner, und der sitzt im Kreml."

Selbst der konservative Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), konnte der Wiener Entscheidung nichts abgewinnen. Das Veto sei "ein Fehler". Abgeordnete aus Bulgarien und Rumänien wurden dann besonders deutlich: Das Veto sei beschämend, Wien akzeptiere ihre Landsleute nur als "Arbeitskräfte". Die Schengen-Frage solle, forderten einige Parlamentarier, auf dem EU-Gipfel am Donnerstag noch einmal thematisiert werden.

Bundeskanzler Nehammer hingegen kann und will die Kritik partout nicht verstehen. Er sagte im ORF, Österreich habe ein "Migrationsproblem". Man müsse sich eben manchmal mit "aller Kraft durchsetzen" in Europa, "wir müssen uns selbst helfen". Derzeit steht er mit dieser Haltung in der EU allerdings ziemlich allein.

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