Zoltán Kovács frohlockte, als er am Donnerstagmorgen in einem Hotel im Zentrum von Budapest über die Agenda seines Chefs sprach. Noch habe er nichts zu verkünden, sagte der Staatssekretär von Ungarns Premier Viktor Orbán, aber man solle doch bitte Augen und Ohren offenhalten. „Überraschung, Überraschung! Passen Sie auf und bleiben Sie in den kommenden Tagen am Ball“, sagte Kovács vor Journalisten, „es werden Dinge passieren.“ So groß war die Überraschung dann nicht mehr, denn es zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt bereits ab: Orbán und seinen Mitstreitern würde es gelingen, eine neue nationalistische Kraft im Europäischen Parlament zu etablieren.
Am Sonntag zuvor hatte Orbán in Wien das Manifest dieser Gruppierung vorgestellt, gemeinsam mit Herbert Kickl, Chef der nationalistischen FPÖ, und Andrej Babiš, Tschechiens Ex-Premier und Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei Ano. Die „Patrioten für Europa“ waren geboren, und sie hatten offenbar schon einen Plan, um die Mehrheit der Mitglieder der rechtsextremen Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) im Europäischen Parlament auf ihre Seite zu ziehen – womit das ganze Vorhaben jetzt mehr wie eine Umfirmierung wirkt denn eine Neugründung.
Niemand soll die Stärke rechtsextremer Parteien mehr ignorieren können
Der Präsident der Fraktion heißt seit Montagnachmittag Jordan Bardella, Parteichef des Rassemblement National (RN) und zuletzt als Spitzenkandidat seiner Partei ins EU-Parlament gewählt. Seine Vize wird die Chefin der elf Fidesz-Abgeordneten im Parlament, Kinga Gál. Die „Patrioten“ ersetzen die ID, sie werden künftig die drittgrößte Fraktion in Europas Hohem Haus stellen und versuchen, vom rechten Rand des Plenums aus die Balance des Parlaments zu verändern. Dabei überholen sie mit ihren 84 Abgeordneten aus zwölf Ländern auch knapp die rechtsgerichtete Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, die Giorgia Melonis Fratelli d’Italia und die polnische Ex-Regierungspartei PiS anführen, und verweisen die liberale Renew-Fraktion auf den vierten Platz.
Die Botschaft: Zwar mag die Mitte gehalten haben und Konservative, Sozialdemokraten und Liberale noch eine parlamentarische Mehrheit haben, aber die gebündelte Stärke der nationalistischen und rechtsextremen Parteien soll niemand mehr ignorieren können. Sie sind vereint darin, dass sie die Europäische Union in ihrer heutigen Form ablehnen, vertreten eine harte Linie in der Migrationspolitik und wenden sich gegen die militärische Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland.
Die AfD bleibt nach ihrem Zerwürfnis mit Le Pen bis auf Weiteres außen vor
Die nationalistischen Parteien Chega und Vox aus Portugal und Spanien waren die ersten, die erklärten, dem neuen Bündnis beitreten zu wollen. Ende voriger Woche folgten der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner Partei für die Freiheit (PVV) und Anders Vistisen, der einzige EU-Abgeordnete der Dänischen Volkspartei DF.
Da war es bereits ein offenes Geheimnis, dass die Lega von Matteo Salvini aus Italien und der RN den Kreis der „Patrioten“ vervollständigen würden. Das machten die Beteiligten am Montagvormittag vor der konstituierenden Sitzung der Fraktion offiziell. Le Pen hatte bis nach der französischen Parlamentswahl gewartet, um nicht zuvor Diskussionen über ihre Russland-Nähe wiederzubeleben. Die deutsche AfD bleibt nach ihrem Zerwürfnis mit Le Pen bis auf Weiteres außen vor.
Die Fraktionsgröße bestimmt über die Redezeit im Parlament
Neu-Fraktionschef Bardella ließ sich am Montag nach der Gründung der Fraktion in Brüssel vertreten, nachdem er tags zuvor noch darauf gehofft hatte, nach der Parlamentswahl in Frankreich Premierminister werden zu können. „Als patriotische Kräfte werden wir zusammenarbeiten, um unsere Institutionen zurückzuerobern und die Politik neu auszurichten, damit sie unseren Nationen und Völkern dient“, zitierten ihn die „Patrioten“ in einer Pressemitteilung.
Es war zu erwarten, dass Le Pen und Bardella, deren Partei mit 30 Abgeordneten die größte nationale Delegation im neu gewählten Parlament stellt, die Führung der Fraktion für sich beanspruchen. Ihr tatsächlicher politischer Einfluss wird allerdings begrenzt sein. Sie bleiben wohl weitgehend außen vor, wenn es darum geht, die wichtigen Posten im Parlament zu verteilen. Ihre Macht wird durch den sogenannten „Cordon sanitaire“ geschmälert, die Demarkationslinie zwischen den proeuropäischen Kräften und den Rechtsextremen: Andere Fraktionen werden sie in Abstimmungen wahrscheinlich daran hindern, Schlüsselpositionen wie den Vorsitz in einem Ausschuss oder die Vizepräsidentschaft des Parlaments zu besetzen.
Dennoch werden die „Patrioten“ mehr denn je auffallen. Die Fraktionsgröße bestimmt über die Reihenfolge der Redner in Parlamentsdebatten, und je größer eine Gruppe ist, desto mehr Redezeit darf sie beanspruchen. Das gibt den „Patrioten für Europa“ viele Gelegenheiten, ihre extremen Positionen vorzutragen und Stimmung zu machen.
Es gelte, die illegale Migration zu stoppen und „die kulturelle Identität zu bewahren“
In welche Richtung das gehen wird, verrät das vorige Woche vorgestellte Manifest. Man glaube an ein Europa „der Nationen, die bereit sind, ihre Bevölkerung vor allen möglichen Bedrohungen aus dem politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Bereich zu schützen“, heißt es darin. „Alle weiteren Übertragungen nationaler Souveränität in die europäischen Institutionen“ lehne man ab. Es gelte, die illegale Migration zu stoppen und „die kulturelle Identität zu bewahren“. Diplomatie sehen die „Patrioten für Europa“ als alleinige Sache der Mitgliedstaaten.
In dieser Hinsicht hat Orbán bereits Fakten geschaffen, indem er mit Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft zuerst nach Kiew, dann nach Moskau zu Russlands Präsident Wladimir Putin und an diesem Montag schließlich nach Peking gereist ist. Als ungarischer Regierungschef, aber auch: als Regierungschef des Landes, das seit dem 1. Juli diese Ratspräsidentschaft innehat; eine Rolle, mit der er gezielt und zum Ärger seiner europäischen Partner spielt. So heißt das Motto der „Patrioten“ angelehnt an Donald Trump „Make Europe Great Again“. Unter diesem Titel steht auch Ungarns Präsidentschaft im Rat.