Europa und Klimaschutz:Der Fahrrad-Prediger

Michael Cramer saß 15 Jahre für die Grünen im Europaparlament. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, an die Grenze zu erinnern, die den Kontinent bis vor 30 Jahren teilte - ganz ökologisch, auf dem Sattel.

Von Bernd Kastner

Die Grenze ist verbarrikadiert. Egal, Michael Cramer radelt vorbei an dem Hindernis und freut sich. Es ist ja auch die denkbar gemütlichste Barrikade für eine Staatsgrenze: zwei Tische, vier Sitzbänke, eine Beton-Holz-Konstruktion. Wanderer können Rast machen und Autos werden gestoppt, ihre Straße verläuft woanders. Unter den Tischen findet sich eine Linie aus Pflastersteinen: hier Deutschland, dort Tschechien. Die Linie führt schräg durch das Gebäude nebenan, den Bahnhof der Gemeinde Bayerisch Eisenstein, und weiter über die Bahnsteige. Europa im Jahre 2019, Tische statt Zäune. Cramer strahlt.

Dass er am Grenzbahnhof im Bayerischen Wald vorbeiradelt, ist kein Zufall. Michael Cramer hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Erinnerung an die Grenze, die Europa bis vor drei Jahrzehnten teilte, wachzuhalten. "Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir haben die Teilung noch erlebt, deshalb müssen wir den jetzigen Generationen davon erzählen." Und so hat er eine erzählende und lehrende Fahrradroute konzipiert: von der Barentssee an der finnisch-russischen Grenze bis zum Schwarzen Meer entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs. "Iron Curtain Trail", 10 000 Kilometer lang. In Schlangenlinien überquert die Route unzählige Male die frühere Systemgrenze, auch hier, zwischen Böhmer- und Bayerwald. Der Europarat hat sie gerade in den Rang einer "Kulturroute" erhoben.

Europa und Klimaschutz: Michael Cramer mit seinem Fahrrad am Bahnhof von Bayerisch Eisenstein. Nur noch 500 Kilometer fehlen ihm, dann hat er den „Iron Curtain Trail“, den er konzipiert hat, komplett abgeradelt. Wann immer er entlang des Weges das Europa-Schild mit der 13 entdeckt, entfährt ihm ein Juchzer.

Michael Cramer mit seinem Fahrrad am Bahnhof von Bayerisch Eisenstein. Nur noch 500 Kilometer fehlen ihm, dann hat er den „Iron Curtain Trail“, den er konzipiert hat, komplett abgeradelt. Wann immer er entlang des Weges das Europa-Schild mit der 13 entdeckt, entfährt ihm ein Juchzer.

(Foto: B. Kastner)

500 Kilometer fehlen ihm noch von den 10 000, erzählt Cramer, jetzt im Restaurant im tschechischen Teil des Bahnhofs sitzend, der Kellner hat Palatschinken zum Kaffee serviert. Die letzten Kilometer will Cramer im Sommer absolvieren, in Finnland ist seine Lücke. Er hat jetzt mehr Luft, weil seine Zeit im Europaparlament endet. 15 Jahre saß Cramer für die Grünen in Brüssel und Straßburg, zweieinhalb Jahre lang leitete er den Verkehrsausschuss. Im Nationalpark Bayerischer Wald schneiden sich die Lebens- und Politiklinien des Michael Cramer: von Nord nach Süd der Radweg, von West nach Ost die Bahnlinie. "Verkehr und Klima gehören für mich zusammen", sagt Cramer. Deshalb engagiere er sich für ökologisch verträgliche Mobilität, für Zug und Fahrrad. "Europa verbinden und erfahren" - das ist dabei sein Ziel.

"Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist": Cramer freut sich, wenn einer dieses Zitat von Theodor Heuss noch nicht kannte. Im Juni wird der Grüne 70, einst gehörte er zu den Spontis, heute könnte er mit seinem weißen Bart und den Lachfalten in jedem Film den Bilderbuch-Opa geben. Optimismus ist sein Gegengift gegen Verzweiflung, denn die könnte schon aufkommen, produziert der Verkehr doch immer mehr klimaschädliche Schadstoffe. Cramer hat gelernt, sich über kleine politische Erfolge zu freuen. Wenn er etwa hinkriegt, dass sich alle 28 Verkehrsminister stundenlang Vorträge übers Radfahren anhören und hinterher gemeinsam zum Essen fahren, mit dem Rad. Und wenn diese Minister hinterher einstimmig die "Roadmap Bicycle" verabschieden, in der festgehalten ist, dass E-Lastenräder mehr als die Hälfte des Güterverkehrs in den Städten bewältigen könnten. Wenn, das muss man dazu sagen, wenn die Regierenden wollen.

Cramer selbst reist wie ein Wanderprediger durch den Kontinent: "Der Verkehr in Europa ist zu billig, nur der umweltfreundliche ist zu teuer. Ohne eine Veränderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht bekämpfen können." So beginnen seine Vorträge, es folgen Dutzende Powerpoint-Folien, darauf steht zum Beispiel: Dass die Fahrradindustrie 700 000 Arbeitsplätze biete in der EU, mehr als in Bergbau oder Stahlproduktion. Dass in der Schweiz das ganze Schienennetz elektrifiziert sei, in Deutschland nur 60 Prozent. Und jetzt, im Grenzbahnhof, stellt er fest, wie ärgerlich es sei, dass ein Urlauber kein durchgehendes Zugticket von München in die Bretagne kaufen könne. Oder dass in Bayerisch Eisenstein die Züge nicht mehr über die Grenze fahren.

Warum nur ist das europaweite Reisen auf der Schiene so kompliziert? "Weil die Eisenbahngesellschaften die letzten nationalistischen Behörden sind in Europa." Gottgegeben sei das nicht, sondern "politisch gewollt". Ebenso, dass für Megaprojekte auf der Schiene die Milliarden fließen, "für die kleine Lückenschlüsse aber haben wir angeblich kein Geld". Und wenn doch, dauere es zu lange: 25 Jahre für 800 Meter Schiene zwischen Sebnitz und Dolní Poustevna in Tschechien. "Das als Schneckentempo zu bezeichnen, ist eine Beleidigung der Schnecken", sagt Cramer. Sagt er seit Jahren. "Wer die Wiederholung nicht mag, darf weder Lehrer noch Politiker sein. Ich bin beides." Er hat Sport und Musik unterrichtet, ehe er ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde, 1989 war das.

Die Route 13

Die Radroute schlängelt sich entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs auf rund 10 000 Kilometer von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer. Bereits 2005 hat das Europäische Parlament die 20 Anrainer-Staaten aufgerufen, die Trasse als Projekt für nachhaltigen Tourismus zu unterstützen. In einigen Ländern sei die Route schon gut ausgeschildert, sagt ihr Entwickler Michael Cramer. Besonders Serbien habe erkannt, welches Potenzial im Radtourismus steckt, Beispiel Donau: 2008 habe man auf diesem Flussradweg 500 Touristen gezählt; dann habe Serbien die Trasse ausgeschildert, vier Jahre später seien es schon 13 000 gewesen. Einer Schweizer Studie zufolge gebe ein urlaubender Radler am Tag 35 Euro aus, ohne Übernachtung. Ein Autofahrer hingegen lasse nur zehn Euro im Land.

Die Euro-Velo-Route 13 will europäische Geschichte, Politik, Natur und Kultur erfahrbar machen, sie passiert Erinnerungsstätten ebenso wie touristische Sehenswürdigkeiten. Darunter sind 14 Unesco-Welterbestätten, von den Sanddünen der Kurischen Nehrung an der Ostsee über die Wartburg bis zum orthodoxen Kloster Rila in Bulgarien. Nähere Informationen unter www.EuroVelo13.com. beka

"Die Mauer muss weg!" In diese Rufe wollte Cramer damals nicht einstimmen, zu sehr hat ihn diese Mauer geprägt. Als sie gebaut wurde, Cramer war zwölf, erfasste ihn große Angst vor einem dritten Weltkrieg. Seither beschäftigt ihn diese Grenze. Bald hatte er im Abgeordnetenhaus den Mauer-Radweg durchgesetzt, inzwischen eine touristische Attraktion, nicht nur für Radler. Es folgte der deutsch-deutsche Radweg, 1100 Kilometer lang, und dann der Trail an der früheren Westgrenze des Warschauer Pakts.

Von Bayerisch Eisenstein geht es auf Forststraßen bergab zum "Haus zur Wildnis", wo im Freigehege Wölfe leben. Wann immer Cramer ein kleines blaues Schild mit einer weißen 13 inmitten goldener EU-Sterne entdeckt, ruft er: "Die Dreizehn!" Wieder ein paar Kilometer mehr seiner Trasse, die ausgeschildert sind. Dabei gehört Deutschland zu den Ländern mit den größten Schilder-Lücken. Sich darüber ärgern? Ach was. "Die Dreizehn!" Jedes Schild ein Juchzer.

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Die Dreizehn hat Cramer das Bundesverdienstkreuz eingebracht. Geplant hat er sie zusammen mit ortskundigen Helfern, sie kennen Wege abseits der Straßen. Wenn er selbst unterwegs ist, hat er am Lenker zwei Geräte montiert: ein Navi und ein Diktiergerät. Er spricht vor sich hin, was ihm auffällt, hier eine neue Brücke, dort eine Sehenswürdigkeit. Alles fließt später ein in eine Datei auf seinem PC, von dort in die Radtourenbücher.

Ganz am Ende war er natürlich schon, wo die bulgarisch-türkische Grenze aufs Schwarze Meer stößt. Davor stehen noch die alten Grenzzäune, verrostet und halb verfallen. Da gibt es aber auch diesen neuen Zaun, Cramer präsentiert ihn in seinen Vorträgen. Die Barrikade glänzt silbern in der Sonne, ist massiver als der alte und umwickelt mit Stacheldraht. Der alte Zaun war dafür da, die Flucht in den Westen zu verhindern, der neue soll Flüchtlinge aufhalten. Im Europa des Jahres 2019 erzählt der Radweg Numero 13 auch diese Geschichte, weit hinter den Grenz-Tischen von Bayerisch Eisenstein.

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