Europa und die Folgen der Schuldenmisere:Die Krise, die alles möglich macht

Eine große Idee hat das vereinte Europa einzigartig gemacht: Politik sollte kein Nullsummenspiel mehr sein, in dem der Gewinn des einen der Verlust des anderen ist. Deshalb gab man Souveränität an gemeinsame Institutionen ab. Doch diese Philosophie ist nun über den Haufen geworfen worden: beim Versuch, den Euro zu retten. Das integrierte Europa ist Vergangenheit - und Europas neue Hauptstädte heißen Berlin und Paris.

Thomas Kirchner

Es ist so faszinierend wie beängstigend, welche Beschleunigungskraft Krisen innewohnt. Innerhalb von drei Jahren haben sich die Verhältnisse in der Europäischen Union schneller verändert als je zuvor. Das vereinigte, integrierte Europa ist Vergangenheit. Um es mit Joschka Fischer zu sagen: Vergesst diese EU.

An European Union flag flutters on the day marking the start of Spain's presidency of the EU, in the Andalusian capital of Seville

Europa in weiter Ferne: Mit der Rettung des Euro geht eine Spaltung Europas und ein Rückschritt zu einer mehr nationalstaatlichen Politik einher.

(Foto: REUTERS)

Wenn Kommissionspräsident José Manuel Barroso nun vor einer Spaltung der Union warnt, vor einem Bruch zwischen den Euro-Staaten und dem Rest, vor einer Union mit einem integrierten Kern und einem abgekoppelten Rand, dann wirkt das fast rührend. Man hörte am Mittwochabend im Haus der Berliner Festspiele den Hilfeschrei Brüssels, das in dieser Krise zermahlen wird.

Wovor Barroso warnt, ist längst Realität, vor wenigen Tagen hat Frankreichs Präsident die Lage unverblümt beschrieben. Dieselben Regeln für alle 27 EU-Staaten? Nein, das sei "absolut nicht" möglich, so Nicolas Sarkozy vor Studenten in Straßburg. Am Ende werde es zwei europäische Gangarten geben: eine in Richtung stärkere Integration in der Euro-Zone und eine, die auf eine losere Zusammenarbeit im Rest der EU hinauslaufe. Wie sich Angela Merkel das "neue Europa" vorstellt, das sie am Mittwoch in ihrer Mauerfall-Rede forderte, ließ sie offen, aber bezeichnenderweise bezog sie sich in ihrer Vision von einer "europäischen Innenpolitik" ausschließlich auf Euro-Staaten.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten also wird kommen, oder besser: zwei Europas. Es ist Zeit, sich wenigstens ansatzweise auszumalen, was das heißt. Die französische Zeitung Le Monde hat damit in mehreren Artikeln begonnen. Da war die Rede von der Chance, den Widerspruch zwischen britischen und kontinentalen Europabildern aufzulösen, vom "endgültigen Triumph der Methode Monnet", was aber vor allem blieb, war tiefe Ratlosigkeit.

In Wahrheit wird es unmöglich sein, eine so heterogene Union unter einem Dach zu halten: hier die Euro-Länder, die Haushalts-, Steuer-, Sozial- und Rentenpolitik eng koordinieren - dort der Rest, eine bessere Freihandelszone. Parallelstrukturen werden entstehen, wie sie sich gerade mit den exklusiven Treffen der Euro-Regierungschefs herausbilden. EU-Kommission und Europa-Parlament werden überflüssig.

Das neue Europa wird sein wie das Schengener Abkommen, ein Europa der Regierungszusammenarbeit. In diesem Europa wird Brüssel, das supranationale Element, keine Rolle mehr spielen. Wer aber spricht dann in Sachen Klimawandel, Einwanderung, Energiepolitik für Europa, in jenen Feldern also, die kontinentübergreifend angegangen werden müssen? Wer schließt völkerrechtliche Verträge ab? Ganz zu schweigen von einer europäischen Außenpolitik oder der dringend nötigen europäischen Verteidigungspolitik samt Armee. Die Einheit des Rechts, identitätsstiftendes Merkmal der EU, wird zerfallen und damit Europa als politisch-kulturelles Projekt.

Diese Krise macht alles möglich

Und wie hat man sich das Miteinander dieser zwei Europas vorzustellen? Wie erste und zweite Bundesliga, samt Relegationsspielen? Die Spannungen, die sich in diesem Gefüge bilden werden, sind längst erkennbar. Der ehemalige britische Premier John Major hat sie in der Financial Times beschrieben: Wenn die Euro-Zone eine Fiskalunion bilde, werde dies die marginalisierten Nicht-Euro-Länder motivieren, näher zusammenzurücken. Zwischen beiden EU-Teilen drohten Konfrontationen, langfristig werde sich wohl ein Muster "variabler Allianzen" ergeben, unter Einschluss von Staaten, die in der Peripherie der Union liegen.

Prompt rief Majors Nachfolger David Cameron kurz darauf zum engeren Zusammenschluss gegen Diktate des Euro-Clubs auf. Es gelte jetzt, die Londoner City, also britische nationale Interessen, energisch zu verteidigen. Allianzen, Gegenbündnisse, kollidierende Interessen - ist das die Welt, auf die wir zusteuern? So ist sie nun mal, geben hartgesottene Realisten zu bedenken, man solle sich von der Illusion trennen, dass sich Europa nach 1945 dauerhaft von der Geschichte verabschiedet habe.

Bevor man sich dieser Logik ergibt, sollte man bedenken, was das Besondere, Einzigartige an diesem vereinten Europa war. Es war - auch - der Versuch, die alten, seit dem Westfälischen Frieden geltenden Regeln des politischen Spiels zu überwinden. Politik sollte kein Nullsummenspiel mehr sein, in dem der Gewinn des einen automatisch der Verlust des anderen ist. Dahinter stand die Erfahrung, die Europa mit einem übersteigerten Nationalismus gemacht hatte, der den Kontinent in verheerende Kriege und die Hölle von Auschwitz führte. Deshalb gab man Souveränität an gemeinsame Institutionen ab, die zum Wohle des Ganzen und jedes Einzelnen handeln sollten.

Diese Philosophie ist über den Haufen geworfen worden: beim Versuch, den Euro zu retten. Wie er gerettet, wie Europa regiert wird, das bestimmen jetzt Deutschland und ein bisschen Frankreich. Das ist keine Machtverschiebung, die nur für die Zeit der Krise gilt. Es ist ein dauerhafter Rückschritt zu einer mehr nationalstaatlichen Politik, die nicht umsonst mit mehr Xenophobie, Populismus und sinkender Solidaritätsbereitschaft einhergeht. Diese neue Politik ist zwar auf Zusammenarbeit angelegt, funktioniert aber gemäß den alten Regeln: Jeder schaue zuerst nach sich selbst, sonst würde er ja verlieren im freien Spiel der Kräfte.

Berlin wird das neue Brüssel

Wenn nun die europäischen Verträge geändert werden sollen, geht es im Kern darum sicherzustellen, dass geschieht, was Deutschland und Frankreich wollen. Keine Spur von gemeinschaftlichem Handeln. Wenn Angela Merkel das "mehr Europa" nennt, täuscht sie das Publikum. Berlin wird das neue Brüssel.

Wer das nicht will, muss versuchen, die alte EU am Leben zu lassen. Wie lässt sich die Integration der Euro-Zone vertiefen, ohne die Union zu spalten? Der einzig denkbare Weg wäre, das gemeinschaftliche Element in der EU zu stärken. Jean-Claude Trichet, der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, träumte in seiner Humboldt-Rede neulich von einer Art Zweikammer-System, mit dem Ministerrat als Senat der Union, dem EU-Parlament als Unterhaus und der Kommission als Exekutive.

Die ehemalige Kommissarin Emma Bonino wiederum will der EU einen "Föderalismus light" verpassen. Brüssel bekäme ein größeres Budget, etwa fünf Prozent des EU-Bruttosozialprodukts, sowie einige klar umrissene zusätzliche Kompetenzen, etwa Außen-, Verteidigungs- und Einwanderungspolitik. Das ist alles nicht ausgegoren und mutet nach dem Kampf um den Lissabonner Vertrag geradezu utopisch an. Aber diese Krise macht alles möglich.

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