Europa und der Osten:Das Gewicht der Geschichte

Manche Regierungen Osteuropas suchen Putins Nähe, andere fürchten ihn.

Von Matthias Kolb

Seit vier Jahren stellt Estlands Auslandsgeheimdienst Välisluureamet seine Jahresberichte ins Internet. Der Report für das Jahr 2019 umfasst 72 Seiten, ist in estnischer und englischer Sprache verfügbar und auf Seite 59 geht es das erste Mal nicht um Russland. Die Analysen werden öffentlich zugänglich gemacht, um die Öffentlichkeit umfassend über die Bedrohungen durch Russland zu informieren, schreibt Geheimdienstchef Mikk Marran im Vorwort.

Der aktuelle Bericht wurde kürzlich auf der Lennart Meri Conference verteilt, und im Rahmen dieser wichtigen Sicherheitskonferenz hielt Estlands Verteidigungsminister Jüri Luik eine Grundsatzrede. Er schilderte nicht nur detailliert, wie Russland sein Militär seit Jahren aufrüste und professionalisiere, sondern bezeichnete als wichtiges Ziel des Kremls auch, die Mitglieder von Nato und EU zu spalten. "Wir alle verstehen, dass die Lage im Westen momentan viel komplizierter ist als noch vor fünf Jahren, aber anstatt uns gegeneinander ausspielen zu lassen, sollte uns das anspornen, noch aktiver und geschlossener zu sein", forderte Luik.

Am Regime in Moskau scheiden sich auch die Geister europäischer Rechtsnationalisten

In Brüssel ist es normal, dass Diplomaten und Abgeordnete mit den Augen rollen, wenn Esten, Letten und Litauer ein hartes Vorgehen gegen Moskau fordern. Die historische Erfahrung, dass sich die Sowjetunion 1940 die damals unabhängigen baltischen Republiken einverleibte und bis 1991 besetzt hielt, ist allen Balten bewusst - und die Erfahrung von Sowjeteinmarsch und Sowjetherrschaft prägt auch Polens Politik. Ein Bündnis der rechtsnationalen Regierungspartei PiS mit der Lega des Italieners Matteo Salvini oder dem französischen Rassemblement National von Marine Le Pen ist so lange undenkbar, wie beide lobende Worte für Russlands Präsident Wladimir Putin finden oder Kredite aus Moskau annehmen.

Dass die von Verteidigungsminister Luik geforderte Einigkeit aus baltischer Sicht mitunter durch die Südeuropäer gefährdet ist, erklärt sich durch die Geografie: In Nato und EU plädieren Italien, Spanien und Griechenland stets dafür, Nordafrika und Nahost stärker zu berücksichtigen. Aber auch in Ost- und Mitteleuropa gibt es ausgesprochen moskaufreundliche Akteure. Neben Tschechiens Präsident Miloš Zeman, der oft für ein Ende der Sanktionen wirbt, ist dies vor allem Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Er war der erste Regierungschef eines EU-Landes, der Putin nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim zum Staatsbesuch empfing. Der kremltreue Staatskonzern Rosatom baut im ungarischen Paks zwei weitere Atomreaktoren. Auch Bulgarien sucht in Energiefragen die Nähe zu Russland.

Für die Pipeline Nord Stream 2 haben Polen und Balten kein Verständnis. Es gilt als "politisches Projekt", mit dem Berlin Europa noch abhängiger von russischer Energie macht. Sven Sakkov, Direktor des estnischen International Center for Defence and Security, formuliert es so: "Lenin hat angeblich mal gesagt: ,Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, an dem wir sie aufknüpfen.' Heute gilt: Der Westen wird das Gas importieren, mit dem wir vergiftet werden."

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