Europa und China:Die Zeit läuft ab

Allen wohl und keinem weh - das wird im Umgang mit der Führung in Peking nicht mehr lange funktionieren. Die Bundesregierung als EU-Ratspräsidentin muss eine schwere Entscheidung vorbereiten: Wie will sie mit einem China kooperieren, das stets Regeln bricht?

Von Stefan Kornelius

Vor einem Jahr hat die Europäische Union für China große Worte gefunden: "strategischer Rivale", aber auch "Partner" und "Wettbewerber". Heute zeigt sich, was die hochtrabende Strategie der EU in Wahrheit ist: eine Ansammlung von Phrasen, eine Anleitung zur politischen Alchemie, ein gedruckter Widerspruch. In der Analysewelt von Denkfabriken mag die "strategische Vorausschau" ein brillantes Konstrukt zur Beschreibung komplizierter Verhältnisses sein. In der Praxis ist sie nicht zu gebrauchen.

Keine Beziehung in der internationalen Politik verändert sich momentan so rasant wie die zwischen der Volksrepublik und nahezu jedem Staat der Welt. Das ist nicht dem Coronavirus zu verdanken, aber dank des Erregers mit neuer Klarheit zu beobachten. China versteckt seinen Anspruch nicht mehr, es fordert ihn offensiv ein. In der Handels- und Investitionspolitik, im Wettlauf um Technologie und Märkte, militärisch, ideologisch, politisch prägend in internationalen Organisationen oder in neuen, von Peking gesteuerten Staatennetzen: Hier werden Regeln geschrieben, Maßstäbe gesetzt, Rechte eingeklagt - und gebrochen. Weil der Grad der Abhängigkeit groß ist, wird über diese neue Weltordnung nicht viel gestritten. Peking handelt, es verhandelt nicht.

Die USA haben es durch die kühne Unfähigkeit ihres Präsidenten und seiner Regierung geschafft, die Neuvermessung der Welt lediglich zu beschleunigen. Ihre Aggression gegen China, zunächst in Handelsfragen, jetzt mehr und mehr ideologisch begründet und mithilfe der Pandemie aufgeputscht, hat kleinere Nationen (wie etwa Deutschland) zu politischen Waisenkindern gemacht.

Das ist eine neue Situation für Deutschland. Die Bundesregierung muss als EU-Ratspräsidentin eine strategische Entscheidung vorbereiten, auf die sie nicht vorbereitet ist und die sie in dieser Relevanz nur selten - Nachrüstung, Wiedervereinigung - treffen musste. Beteiligt sie sich mit den USA an der Dämonisierung Chinas, dann befördert sie eine Spaltung der Welt, die für viele Jahrzehnte prägend bleiben und voller Nachteile sein wird. Lässt sie China gewähren, nährt sie nur die Gefräßigkeit Pekings, toleriert das Gebaren und verrät ihre eigenen Werte.

Ein Mittelweg, der den Druck aus Washington abfedert und Peking gleichwohl auf den Pfad der Tugend zwingt, könnte - wenn überhaupt - nur gemeinsam mit allen EU-Mitgliedern Erfolg haben. Wie wenig die 27 aber mit einer Stimme sprechen, hat die trippelnde Reaktion auf das neue Sicherheitsgesetz für Hongkong gezeigt. Peking spaltet, Peking gewinnt.

Nun ist es richtig, derart bedeutende Weichenstellungen nicht zu überhasten und mit Tagespalaver zu belasten. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat den Kalender mit seinen Gipfeltreffen auf ihrer Seite. Sie hat es möglicherweise auch mit einer chinesischen Führung zu tun, die momentan vor dem Konflikt mit dem Marktgiganten Europa zurückschreckt.

Es bleiben also wenige Wochen, in denen Berlin nicht zögern sollte, Bedingungen klar zu benennen (sie wurden übrigens schon vor einem Jahr beim letzten EU-China-Gipfel aufgezählt und seitdem fleißig ignoriert). Dann aber läuft die Zeit ab. Allen wohl und keinem weh - das mag in Strategiepapieren und in Volkshallenreden in Peking funktionieren, im Umgang mit China gilt das nicht.

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