Im Umgang mit der Flüchtlingskrise prallen die Positionen in der Europäischen Union immer schärfer aufeinander. Unmittelbar vor einem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs sorgte Ungarn mit der Ankündigung für Empörung, entgegen den geltenden Regeln über das Land in andere EU-Länder weitergereiste Flüchtlinge nicht mehr zurückzunehmen. "Das kann Österreich nicht tolerieren", sagte Außenminister Sebastian Kurz am Mittwoch in einem Telefonat mit seinem ungarischen Kollegen Peter Szijjártó. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner drohte mit der Wiedereinführung von Kontrollen an der Grenze zu Ungarn.
Das ist auch der brisante Hintergrund des Konflikts, mit dem sich die Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag in Brüssel befassen. EU-Diplomaten stellten klar, dass es letztlich um den Erhalt des Schengen-Systems gehe, das die kontrollfreie Bewegung über Staatsgrenzen innerhalb der EU hinweg ermöglicht. Das System gerät in Gefahr, wenn EU-Staaten die Einreise von Flüchtlingen nicht mehr kontrollieren und andere deshalb ihre Grenzen schließen.
Konkret fordern Italien und Griechenland angesichts der großen Zahl über das Mittelmeer kommender Flüchtlinge die Solidarität der anderen EU-Staaten. Nach einem Vorschlag der EU-Kommission sollen 40 000 Flüchtlinge in den beiden Ländern nach einer Quote auf die anderen EU-Staaten verteilt werden. Dabei sollen Größe, Wirtschaftskraft und Arbeitslosenzahl berücksichtigt werden.
Mindestens zwölf EU-Staaten, darunter Ungarn, lehnen eine solche verbindliche Quote ab. EU-Ratspräsident Donald Tusk sei daher der Meinung, dass "von Brüssel verfügte Quoten keine Chance haben", stellte ein hochrangiger EU-Vertreter am Mittwoch klar. Im Entwurf der Gipfelbeschlüsse ist entsprechend nur die Rede von der "Umsiedlung von 40 000 Personen aus Italien und Griechenland, die klar zeitweiligen Schutzes bedürfen". Verbindliche Quoten werden nicht erwähnt. Das Ziel Tusks ist es aber, vom Gipfel ein Bekenntnis zur freiwilligen Aufnahme der 40 000 Menschen zu bekommen.
Einseitige Maßnahmen wie die ungarische machten die Verhandlungen nicht einfacher, hieß es aus dem Umfeld Tusks. In Deutschland und Österreich wurden die ungarischen Botschafter zu Gesprächen in die Außenministerien gebeten. Auch die EU-Kommission forderte Aufklärung. Ungarn komme seinen Verpflichtungen vollständig nach und habe keine EU-Regeln außer Kraft gesetzt, ruderte Außenminister Szijjártó in Budapest zurück. Ungarns EU-Botschafter Péter Györkös stellte klar, man habe die Partner lediglich um Geduld gebeten, weil die Aufnahmekapazität in Ungarn erschöpft sei. Allein in diesem Jahr seien schon 61 000 illegal Einreisende in Ungarn registriert worden. Ungarn wirft der EU vor, sich nur auf die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer zu konzentrieren und die Migration vom Balkan und aus Zentralasien außer Acht zu lassen. Ungarn plant überdies den Bau eines Grenzzauns zu Serbien.