Europa:Sperren für Straßburg

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Europäische Mengenlehre: Besucher im Informationszentrum von Brüssel, das neben Straßburg der zweite Tagungsort des Parlaments ist.

(Foto: John Thys/AFP)

Im Europäischen Parlament gibt es sehr viele kleine Splitterparteien mit manchmal nur einem einzigen Abgeordneten. Große Fraktionen und Mehrheiten sind so schwer zu bilden. Jetzt soll das Wahlrecht geändert werden.

Von Wolfgang Janisch und Thomas Kirchner, Brüssel/Karlsruhe

Es war eine Neuerung, die 2014 den sonst meist drögen Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) endlich etwas Pep verlieh: Zum ersten Mal stellten die großen Fraktionen Spitzenkandidaten auf, mit dem Ziel, den Vertreter der erfolgreichsten Gruppierung zum Präsidenten der Europäischen Kommission zu machen. Die Operation gelang, trotz heftigen Widerstands aus manchen Hauptstädten, und sie hat das Parlament seinem Ziel näher gebracht: als "echte", vollwertige Bürgervertretung respektiert zu werden, die auf Augenhöhe mit den anderen Institutionen Politik für Europa gestaltet.

An Kompetenzen hat das EP über die Jahre zwar kräftig gewonnen. Zu einem echten Parlament aber gehören, so sieht es zumindest sein Verfassungsausschuss, auch stabile Mehrheiten und große Fraktionen, die der Kommission und dem Rat, also der Vertretung der Mitgliedstaaten, Paroli bieten können. Splitterparteien mit einzelnen Abgeordneten gilt es hingegen zu vermeiden. Genau das soll mit der geplanten Reform des Europawahlrechts nun erreicht werden. Der Vorschlag lautet, europaweit eine Sperrklausel von drei bis fünf Prozent einzuführen.

Bisher richtet jedes Land die Wahlen noch mehr oder weniger nach Belieben aus. Der europäische Direktwahlakt aus dem Jahr 1976 macht nur ein paar allgemeine Vorgaben, legt etwa Verhältnis- statt Mehrheitswahlrecht fest. So gibt es in den 28 Mitgliedstaaten Mindesthürden in jeder Höhe: In Frankreich und den meisten osteuropäischen Ländern liegt sie bei fünf Prozent, in Österreich und Italien bei vier. In fast der Hälfte der Staaten existiert keinerlei Schwelle. In Deutschland kippte das Bundesverfassungsgericht 2011 die Fünf-Prozent-Hürde und lehnte drei Jahre später auch drei Prozent ab. De facto reichten im vergangenen Jahr 0,5 Prozent für ein Mandat, was dem EP einen deutschen Tierschützer sowie den Satiriker Martin Sonneborn ("Die Partei") als Mitglieder bescherte. Die 96 deutschen Abgeordneten gehören 13 verschiedenen Gruppierungen an.

Die geplante Reform ist ein kleiner Affront gegen die Verfassungsrichter in Karlsruhe

"Eine solche Zersplitterung ist nicht gut für die Funktionsfähigkeit des Parlaments", sagt Jo Leinen (SPD), Berichterstatter für den Reformplan. Ihn stört nicht nur, dass Politiker wie Sonneborn das Parlament missbrauchen. Es gebe auch zunehmend knappe Abstimmungen, weil einzelne Abgeordnete ohne eine feste Fraktionszugehörigkeit laufend ihre Meinung wechselten. Außerdem ließen sich ungebundene Abgeordnete auch leichter "kaufen". Den EU-Skeptikern um den Briten Nigel Farage (Ukip) ist es mit ihrer Hilfe gelungen, eine Fraktion zu bilden, die allen gemeinsam mehr Rechte und Finanzmittel sichert. Und dies, obwohl sie programmatisch kaum Berührungspunkte haben.

Die geplante Reform ist ein kleiner Affront gegen Karlsruhe, gegen die die Verfassungsrichter aber machtlos sind. In ihren Urteilen sahen sie in der Hürde einen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, weil bei jeder Sperrklausel zahlreiche Stimmen unter den Tisch fallen, wodurch der Wählerwille verzerrt wird. Solche Zugangshürden können - siehe Bundestag - gerechtfertigt sein, um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu erhalten. Beim EU-Parlament jedoch sah das Bundesverfassungsgericht kein solches Risiko.

Für eine neue Hürde aber wären diese Wahlrechtsgrundsätze nicht mehr einschlägig. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte damals allein eine deutsche Regelung zur Europawahl zu beurteilen; eine europarechtliche Sperrklausel existierte nicht, stellten die Richter ausdrücklich fest. Das heißt im Umkehrschluss: Auf eine EU-weit verbindliche Klausel wäre der strenge Maßstab des deutschen Verfassungsrechts nicht mehr anwendbar. Der Weg für eine Sperrklausel wäre frei - zumindest wenn der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung an der Untergrenze des Spielraums bliebe, den das EP vorsieht.

Der Plan sieht noch weitere Änderungen vor, um die Wahlen "demokratischer und transparenter" zu machen. So sollen die Listen, um die Chancengleichheit zu erhöhen, nach dem "Reißverschluss"-Verfahren abwechselnd mit männlichen und weiblichen Kandidaten besetzt werden. Auch soll das Logo der europäischen Partei, der ein Kandidat angehört, auf den Plakaten so groß sein wie das seiner nationalen Partei. Das Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt und die elektronische Wahl eingeführt werden. Nicht gerührt wird an den verschiedenen Wahltagen, die auf nationalen Traditionen beruhen. Doch will man Nachwahlbefragungen erst ab 21 Uhr am letzten Tag erlauben.

Bei der Abstimmung in der kommenden Woche wird mit einer relativ breiten Mehrheit der europafreundlichen Mitteparteien für den Reformplan gerechnet. Kritik kommt erwartungsgemäß von den Kleinen. Jo Leinen bastele sich die politische Welt so zurecht, wie es ihm passe, erklärte Arne Gericke von der Familienpartei. Anschließend geht der Vorschlag in den Rat. Dort muss einstimmig entschieden werden - eine hohe Hürde für die neuen Sperrklauseln.

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