Europa:Sozialdemokraten geht es schlecht - fast überall in Europa

Wählerschwund in Großbritannien, Kanzlersturz in Österreich: Die Sozialdemokraten scheinen nicht mehr die richtigen Antworten auf die Nöte der Menschen zu finden.

Von SZ-Korrespondenten

Jeremy Corbyn Attends Student Voter Registration Rally

Labour-Chef Jeremy Corbyn kämpft mit Wählerschwund.

(Foto: Getty Images)

Großbritannien: Zurück zu den Wurzeln

Die Labour-Partei steckt in einer Identitätskrise. Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass sie von 1997 bis 2010 an der Macht war und die Basis noch immer nicht sicher ist, ob das nicht in Wahrheit ein Fluch war.

Tony Blair hatte die Partei so weit in die Mitte gerückt, dass der linke Labour-Flügel sich nicht mehr mit seiner Politik identifizieren konnte. Doch Blair gewann Wahlen, drei hintereinander. Nach seinem Rücktritt 2007 versäumte es sein Nachfolger Gordon Brown, den linken Flügel wieder zu integrieren. Das führte dazu, dass dieser sich nach der Wahlniederlage 2010 von der Parteispitze emanzipierte und nicht den moderaten und hochfavorisierten David Miliband zum Parteichef wählte, sondern dessen deutlich linker aufgestellten Bruder Ed.

Nachdem der die Wahl 2015 verloren hatte, entbrannte erneut ein Richtungsstreit: Sollte es zurück zu Blairs Weg der Mitte gehen? Oder sollte die Partei noch weiter nach links rücken? Das Labour-Establishment wollte die Partei moderater ausrichten.

Die Basis wählte den Altlinken Jeremy Corbyn zum Chef und bejubelte ihren Sieg zunächst. Mittlerweile macht sich Ernüchterung breit, weil Labour zwar zu den historischen Wurzeln als Arbeiterpartei zurückgekehrt ist, aber auch weiten Teilen der Basis klar ist, dass die Partei so kaum Chancen auf eine Mehrheit im eher konservativen Vereinigten Königreich hat.

In England verliert sie mehr und mehr an Zustimmung. Auch im traditionell Labour-freundlichen Schottland ist die Partei nur noch drittstärkste Kraft, weil die Scottish National Party ihre Positionen weitgehend schlicht übernommen hat. Lediglich in Wales, wo keine fünf Prozent der Einwohner des Königreichs leben, ist Labour noch eine Macht. Von Christian Zaschke

Österreich: 18 Mal in Folge verloren

Die österreichische Sozialdemokratie hofft, mit dem neuen Parteivorsitzenden Christian Kern eine Serie von Niederlagen zu beenden, die aus der einst mächtigsten Partei des Landes einen Scherbenhaufen gemacht hat. 18 Mal in Folge hatte die SPÖ unter dem letzten Kanzler Werner Faymann bei Wahlen Stimmverluste eingefahren und insgesamt eine Million Wähler verloren - für ein Land mit acht Millionen Einwohnern eine beträchtliche Zahl.

Die SPÖ regiert bis auf wenige Unterbrechungen seit Kriegsende mit; der Gang in die Opposition, in anderen Ländern demokratische Selbstverständlichkeit, ist im Selbstverständnis der SPÖ nicht vorgesehen. Sollte der neue Mann an der Spitze, der am Mittwoch vereidigt wird, bis zur nächsten, turnusmäßigen Nationalratswahl 2018 durchhalten (falls keine Seite Neuwahlen erzwingt), wird sich dann die Frage stellen, ob es ein weiteres Mal für eine Koalition mit der ÖVP reicht.

Christian Kern

Er soll's richten für die SPÖ - und für Österreich: Christian Kern.

(Foto: AP)

Bei der letzten Wahl kamen die Partner gemeinsam nur knapp über 50 Prozent. Die SPÖ in den Bundesländern ist ein Torso, lediglich in drei der neun Bundesländer stellt sie den Landeshauptmann. Nicht nur vom Kopfe her stinkt dieser Fisch. Von Cathrin Kahlweit

Italien: Einfach alternativlos

Nur Italien entwindet sich dem Trend. Die italienische Sozialdemokratie, in der Gestalt des Partito Democratico (PD), gilt von allen progressiven Parteien in den großen europäischen Ländern gerade als die stabilste und erfolgreichste. Das hat viel mit Matteo Renzi zu tun, dem jungen Premier des Landes - aber nicht nur mit ihm. Renzi hat in etwas mehr als zwei Jahren eine Reihe von Reformen umgesetzt, auf die Italien seit Jahrzehnten gewartet hat: am Arbeitsmarkt, in den Institutionen, bei den Bürgerrechten. Dieses Machertum rechnen ihm viele hoch an.

Europa: Matteo Renzi hofft, heimatlose Wähler zu gewinnen.

Matteo Renzi hofft, heimatlose Wähler zu gewinnen.

(Foto: AFP)

Klassisch links waren nur wenige dieser Reformen. Und so ist er in der eigenen Partei, die er als Sekretär anführt, alles andere als unumstritten. Im linken Flügel des PD feinden sie ihn wegen seiner wirtschaftsliberalen Ader und seinem selbstgefälligen Stil gar offen an. Das scheint Renzi aber nicht zu bekümmern. Mit seiner Öffnung zur bürgerlichen Mitte hofft er, viele heimatlose Wähler für sich zu gewinnen - solche, die früher Silvio Berlusconi anhingen.

Freunde der Parteiorthodoxie werfen Renzi vor, er plane einen "Partito della Nazione", eine Volkspartei, in die dann alles irgendwie hineinpasse. Möglich ist das nur, weil die bürgerliche Rechte im Gleichschritt mit ihrer langjährigen Leitfigur Berlusconi dahindämmert. Matteo Renzi füllt einen Teil dieses temporären Vakuums, er tut das wendig und schlau.

Als ernsthafte Konkurrenz gilt nur die junge Protestpartei Cinque Stelle, deren Zukunft nach dem Tod von Parteimitbegründer Gianroberto Casaleggio aber unklar ist. In dieser Konstellation haben Renzi und seine PD einen denkbar einfachen Vorteil: Es gibt zu ihnen zurzeit keine plausible Alternative. Von Oliver Meiler

Frankreich: Spaltung durchaus möglich

Nach vier Jahren Regentschaft von François Hollande ist Frankreichs stolze sozialistische Partei reichlich ramponiert. Dem Parti Socialiste (PS) laufen Volk und Parteivolk weg: Von 170 000 Genossen anno 2012 sind noch 110 000 übrig, in Umfragen dümpelt die Partei der Rose meist unter 20 Prozent - abgeschlagen auf Platz drei, hinter konservativen Republikanern und rechtsextremem Front National. Schuld ist der Chef. Hollande, ein getreuer Sozialdemokrat, hatte im Wahlkampf 2012 mit linken Sprüchen ("Mein wahrer Gegner ist die Finanzwelt!") Millionen Linke an sich gebunden.

French President Hollande survives a no confidence vote at the Fr

Mit seiner Wirtschaftspolitik erzürnt er die Linken: François Hollande.

(Foto: dpa)

Dann vollzog der Präsident 2014 seine wirtschaftspolitische Wende: Den Unternehmern bescherte er milliardenschwere Abgaben-Nachlässe, derzeit provoziert er mit seinem Vorstoß zur Lockerung der 35-Stunden-Woche den Zorn aller Linken.

Hollande wird ein altes Versäumnis der französischen Sozialisten zum Verhängnis: Der PS hat nie - wie etwa die SPD 1959 - sein "Godesberg" erlebt, also die Versöhnung mit Markt und Kapital. In Zeiten der Opposition gaben sich die diversen Parteiflügel theoretischen Debatten hin - um sich als Regierungspartei mit der eigenen Realpolitik kollektiv zu enttäuschen.

Inzwischen scheint sogar ein PS-Zerfall vor den Präsidentschaftswahlen 2017 möglich zu sein: Die sozialistischen "Frondeure" scharten sich dann um einen Linkspopulisten wie Ex-Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, derweil Premier Manuel Valls oder der sozialliberale Wirtschaftsminister Emmanuel Macron um die Gunst aller Sozialdemokraten buhlten. Bittere Ironie: Einzig eine erneute Kandidatur des unpopulären Hollande könnte diese Spaltung abwenden. Vielleicht. Von Christian Wernicke

Spanien: Die Kompetenz verspielt

Lange liegt der größte Triumph der spanischen Sozialisten (PSOE) zurück: Bei den Wahlen 1982 holten sie mit Felipe González an der Spitze 48 Prozent. Allerdings war der nach 14 Jahren als Regierungschef ausgebrannt, seine Partei von Korruptionsskandalen gelähmt - und die Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent geklettert.

2004 eroberte die PSOE die Macht zurück, Premier José Luis Zapatero trieb gesellschaftspolitische Reformen voran. Doch ignorierte er zu lange alle Warnungen vor einer gigantischen Immobilienblase. Als er 2011 abgewählt wurde, hinterließ er ebenfalls eine Arbeitslosenrate von 25 Prozent. Für den jetzigen PSOE-Chef Pedro Sánchez sind diese Zahlen eine schwere Hypothek - in allen Umfragen zur Wirtschaftskompetenz schneidet seine Partei schlecht ab.

Spanish Socialist Party (PSOE) leader and presidential candidate

Die jungen Leute wenden sich ab von seiner Partei: PSOE-Chef Pedro Sánchez.

(Foto: dpa)

Und sie wird, ebenso wie die konservative Volkspartei, der politischen Klasse zugerechnet, die den Kontakt zur Bevölkerung verloren hat. Besonders schmerzlich: Die jungen Leute wenden sich ab. Die PSOE hat keine Antwort auf die linke Konkurrenz von Podemos gefunden. Bei den Neuwahlen Ende Juni könnte die PSOE unter 20 Prozent rutschen. Von Thomas Urban

Schweden: Unbehagen im Volksheim

Acht Jahre Opposition, das war Rekord für Schwedens Sozialdemokraten. Nie zuvor mussten sie in den vergangenen hundert Jahren so lange auf die Regierung verzichten wie nach ihrer Niederlage 2006. Die meiste Zeit konnten sie durchregieren, haben Schweden als sozialdemokratisches Musterland aufgebaut, mit starken Gewerkschaften, großzügigen Sozialleistungen, ermöglicht durch eine robuste Wirtschaft und hohe Steuern.

President Obama Hosts Nordic Leaders At The White House

Es fehlt eine Vision: Stefan Löfven, Ministerpräsident und Chef der Sozialdemokratischen Abeiterpartei Schwedens.

(Foto: Via Bloomberg)

Seit der Jahrtausendwende läuft es nicht mehr so gut. 2010 holten sie das schlechteste Wahlergebnis seit 1914, und 2014 war es kaum besser. Trotzdem sind die Sozialdemokraten seither wieder an der Regierung - und doch schwach. Drei Monate nach der Wahl bekamen sie den Etat nicht durchs Parlament und hätten fast hingeschmissen. Ein Problem ist, dass sich ihr Programm kaum noch von dem der bürgerlichen Parteien unterscheidet: mehr Jobs, bessere Schulbildung, mehr Wohnungsbau.

Der Wohlfahrtsstaat ist unumstritten, auch die Konservativen hatten Steuern und Sozialleistungen nur moderat gekürzt. In der Flüchtlingspolitik haben beide großen Lager von sehr großzügig auf restriktiv umgeschwenkt. Nur die Schwedendemokraten, die schon immer gegen Einwanderer waren, stechen hervor. Sie inszenieren sich nun als Verteidiger des Wohlfahrtsstaates. Ihr Erfolg ist ein weiterer Grund dafür, dass der Arbeiterpartei die Unterstützer weglaufen.

Es fehlt eine klare Definition ihrer sozialdemokratischen Politik, eine Vision, mit der sie sich abheben, wie einst mit der solidarischen Gesellschaft, dem "Volksheim" als Vorgänger des Wohlfahrtsstaats, oder wie unter dem legendären Premier Olof Palme mit seiner Familienpolitik und der Gleichstellung der Frau. Von Silke Bigalke

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