Völkerwanderung in Europa:Go west

Rumänischer Reisebus kommt in Berlin an

Der Beginn aller Träume: viele Rumänen kommen mit dem Reisebus nach Deutschland.

(Foto: dpa)

"Viele Rumänen glauben leidenschaftlich an den Mythos Deutschland": Osteuropa erlebt seit der Wende 1990 eine dramatische Abwanderung von Menschen. Der Westen empfängt sie nicht immer freundlich.

Von Thomas Hummel

Liliana Vasile hält sich mit beiden Händen an einem Päckchen Taschentücher fest. Sie ahnt, dass ihr die Erinnerungen gleich Tränen in die Augen treiben werden. "Ich werde weinen müssen", sagt sie. Die 43-jährige kleine, robust wirkende Frau erzählt aus ihrem Leben, von Rumänien, von einer Busreise und der Ankunft in Deutschland. Sie trägt weiße Turnschuhe, eine graue Jacke mit hohem Kragen, eine Brille mit schwarzem Rand. Ihre Hände zeugen von harter körperlicher Arbeit. Die Armut aber sieht man ihr nicht an. Niemand würde vermuten, dass sie mit ihrer Familie in einem Berliner Park übernachten musste.

Die Misere hat schon in Mogoșoaia begonnen, einem Vorort der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Dort lebte Liliana Vasile mit ihrem Mann und drei Kindern, sie arbeitete in einer Bäckerei und als Nachtschwester in einem Waisenhaus, ihr Mann schuftete in einer Kiesfabrik. Das Geld reichte nicht für eine eigene Wohnung. So tingelte die Familie herum, wohnte teilweise bei den Schwiegereltern. Dann zogen Bekannte nach Berlin, der 21-jährige Sohn mit Frau und Kind zog bald hinterher. Ende Dezember 2015 folgte der Rest der Familie. "Wir wollten raus aus der Armut. Wir wollten, dass es uns besser geht, die ganzen Schwierigkeiten hinter uns lassen", sagt Liliana Vasile.

Die Familie ist kein Einzelfall. Seit der politischen Wende 1990 haben viele Rumänen ihr Land verlassen, die Bevölkerung ging von mehr als 23 Millionen auf gut 19 Millionen zurück. Die europäische Wanderungsbewegung beschränkt sich nicht auf Rumänien, die Bevölkerungszahlen vieler mittel- und osteuropäischer Länder sind teilweise drastisch geschrumpft. Lettland hat mehr als ein Viertel seiner Menschen verloren, Litauen mehr als 20 Prozent, Bulgarien 19 Prozent, Rumänien 16 Prozent. Das Motto heißt "Go West". In Großbritannien, Italien, Deutschland, Norwegen, der Schweiz und anderen Ländern des Westens nimmt die Bevölkerung trotz des demografischen Wandels zu.

Viele rumänische Einwanderer machen schnell Karriere

Es gehen Menschen aus allen Schichten, Hochqualifizierte genauso wie sozial Schwächere. Oft stecken persönliche Motiven dahinter, aber viele Auswanderer haben etwas gemein: Sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Weil zu Hause die Möglichkeiten für Karriere und Laufbahn beschränkt sind, weil Korruption und Vetternwirtschaft herrscht, weil man im Westen mehr Geld verdient und dafür mehr bekommt. Und weil die soziale Ungerechtigkeit in vielen Ländern enorm ist und zementiert zu sein scheint.

So kam Familie Vasile nach mehr als 30 Stunden Fahrt mit dem Bus in Berlin an. Die Eltern, der damals 16-jährige Sohn und die 13-jährige Tochter. Bei Freunden in deren kleiner Wohnung durften sie nicht lange bleiben, sonst hätten die Gastgeber ihren Mietvertrag riskiert. Doch wohin? Ohne Geld, ohne Job, ohne Kontakte. Der älteste Sohn wohnte bei seinen Schwiegereltern, für mehr Menschen war auch diese Wohnung zu klein.

Die Stimme von Liliana Vasile ist jetzt brüchig, stockend, sie blickt auf ihre Hände, die das Päckchen Taschentücher kneten. "Wir haben auf der Straße schlafen müssen, im Park. Es gab auch andere Leute, die da geschlafen haben. Wir haben uns eine Bank genommen und hatten keinen Kontakt zu den anderen. Wir hatten Angst. Es war Winter, es war kalt, es gab Schneeregen." Sie blickt hoch, es wirkt so, als schäme sie sich, als wolle sie sich dafür entschuldigen. Sie holt sich ein Taschentuch aus der Packung und wischt sich unter der Brille die Tränen weg.

Zwei Tage ging das so, dann hat sie der ältere Sohn zur Caritas geschickt, in die Mobile Beratungsstelle für Zuwandernde aus Südosteuropa (Mobi). Diese vermittelte der Familie Vasile eine Notunterkunft in Berlin. "Hätten wir die Caritas nicht gefunden, es wäre schlimm geworden für uns", glaubt Liliana Vasile.

Rumänen mit am besten integriert

Keine Ausländergruppe in Deutschland ist zuletzt so stark gewachsen wie die Rumänen. Seitdem sie 2014 die Freizügigkeit der Europäischen Union erhielten, kommen immer mehr: Von damals weniger als 100 000 stieg ihre Zahl bis Ende 2017 auf mehr als 600 000. Wie viele nicht angemeldete Wanderarbeiter zusätzlich im Land sind, weiß niemand. Was man weiß: Ohne die Rumänen sowie die ebenfalls wachsende Gruppe der Polen würde in manchen Sparten der deutschen Wirtschaft kaum mehr etwas funktionieren. Im Lager, auf dem Bau, der Gastronomie, in der Pflege, bei Kurierdiensten - Osteuropäer sind willkommene Arbeitskräfte. Trotzdem dominiert in Deutschland das Bild der armen Rumänen, die auf Sozialleistungen aus sind, der Bettler in den Innenstädten, der Zeltlager in Parks, der Roma-Familien in Schrottimmobilien. Das Stichwort "Armutszuwanderung" hat schon 2014 politisch polarisiert.

Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. "Rumänen gehören zu den am besten integrierten Ausländern in Deutschland", sagt Ehsan Vallizadeh vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. "Die meisten arbeiten hier und zahlen Steuern." Anhand der Statistiken ließen sich die Befürchtungen, es gebe einen Ansturm auf die Sozialsysteme, nicht bestätigen. Die Beschäftigungsquote sei hoch, die Bezieher von Arbeitslosengeld und Hartz IV liegen im Durchschnitt aller EU-Bürger bei etwas unter zehn Prozent. Dazu gibt es einen großen Teil an rumänischen Einwanderern, die bestens gebildet sind und schnell Karriere machen, zum Beispiel Ärzte.

Nach einem Bericht der Weltbank hatten schon 2013 etwa 14 000 rumänische Ärzte das Land verlassen, das war mehr als jeder vierte Mediziner. Ende 2016 waren nach Zahlen der Bundesärztekammer 4285 Ärzte aus Rumänien in Deutschland, zahlenmäßig ist das die stärkste Ausländergruppe. Einer von ihnen ist der heute 30-jährige Andrei Antoce. In der Stadt Iași im Nordosten Rumäniens studierte er Medizin und dachte nicht ans Auswandern. "Aber ich war nicht zufrieden, wie das alles lief", sagt er. Das geringe Gehalt sei dabei zweitrangig gewesen, schlimmer waren die Umgangsformen seiner Chefs. Antoce erzählt von Hindernissen, die ihm in den Weg gelegt worden seien, "die Leute lassen dich nicht weiterlernen, sie zeigen dir nichts". Er äußert den Verdacht, dass nur der Karriere machen kann, der seine Vorgesetzten besticht. Er habe jedenfalls keine Möglichkeit gesehen voranzukommen. "Also dachte ich: Ich bin jung, schauen wir mal, wie es woanders ist."

Die Menschen sind komplett überrascht von der Ablehnung, die sie erfahren

Das Klinikum im nordbayerischen Weiden nahm ihn 2015 sofort. Heute arbeitet Antoce als Assistenzarzt in der Inneren Kardiologie und findet sich zwischen Kollegen aus aller Welt wieder. Nur eine Kollegin kommt aus Deutschland, die anderen aus Tschechien, Rumänien, Peru, Bolivien und weiteren Teilen der Welt. Antoce hat sich integriert in die Weidener Gesellschaft, sogar Dialekt hat er gelernt. Den in der Oberpfalz berühmten Spruch "Bou mou dou, wos Bou dou mou" (übersetzt für alle Nicht-Oberpfälzer: Bub muss tun, was Bub tun muss) spricht er perfekt aus. Antoce möchte in Weiden seine Weiterbildung beenden. Und dann? "Mal sehen, aber nach Rumänien gehe ich zu 99 Prozent nicht zurück."

Für das Gesundheitssystem in Rumänien ist der Weggang der Mediziner ein Problem, die Regierung hob zuletzt die Gehälter an, um die Abwanderung zu bremsen. Doch die Situation an vielen Krankenhäusern ist bedrückend. Rumänen erzählen, dass Patienten bisweilen erst in die Apotheke gehen müssen, um Plastikhandschuhe zu kaufen, bevor sie operiert werden können. Die Weltbank glaubt, dass von der arbeitsfähigen Bevölkerung etwa ein Viertel nicht mehr im Land lebt, was ein Grund für die niedrige Arbeitslosenquote ist. Stephan Meuser, der für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bukarest arbeitet, beklagt: "Wir haben hier inzwischen einen Fachkräftemangel gerade in den Berufen, die in den westlichen EU-Ländern zum Teil deutlich besser bezahlt werden." Neben dem Gesundheitswesen nennt er das Handwerk sowie Facharbeiter. "Man könnte von einem innereuropäischen Braindrain sprechen", gemeint ist der systematische Abfluss von qualifizierten Arbeitskräften.

Die Weltbank rechnet aus, dass Rumänien durch die Abwanderung 7,5 Prozent an Bruttoinlandsprodukt verloren hat. Die aktuelle Regierung der Partidul Social Democrat (PSD) genießt nur noch wenig Vertrauen, zumindest bei den Emigranten. Kritiker sehen anti-europäische Tendenzen, dazu eine Politik gegen Minderheiten und Homosexuelle. Viele sind erzürnt über die Angriffe auf die Justiz, um die hausgemachte Korruption zu vertuschen. Ihr Versprechen, sich für die Belange der ärmeren Schichten einzusetzen, löst die Partei kaum ein. Und so machen sich auch viele Menschen ohne Berufsabschluss auf die Reise, lange Zeit waren Italien und Spanien die ersten Adressen, weil Sprachen und Klima ähnlich sind. Seit der Finanzkrise ist Nordeuropa attraktiver.

"Viele Rumänen glauben leidenschaftlich an den Mythos Deutschland", berichtet Catalin Buzoianu, "dass hier alles besser ist, alles nach gerechten Regeln abläuft und sie besser behandelt werden." Der 29-Jährige kommt aus Buzău, einer Kreisstadt in der Walachei. Soziologen wie er oder Sozialpädagogen verdienen in Rumänien oft nur wenige Hundert Euro im Monat, ohne familiäre Hilfe kann davon niemand leben. Deshalb habe er nach dem Studium die Wahl gehabt zwischen einem Callcenter in Rumänien oder dem Ausland. Über Stuttgart und die schwäbische Kleinstadt Welzheim kam er nach Berlin, wo er sich zuletzt zwei Jahre lang beim Verein "Kulturen im Kiez" mit den Problemen von Migranten beschäftigte. Seine Erfahrungen haben Buzoianu wütend gemacht.

Auf Einladung des Vereins Deutsch-Rumänische Gesellschaft hält Buzoianu im Keller eines Berliner Cafés einen Vortrag mit dem Titel "Die Unerwünschten". Er trägt Vollbart, das kurze Haar steht zu Berge. Er spricht laut, bisweilen wird er sarkastisch, fast zynisch. Er spricht davon, was Rumänen erwartet, wenn sie ohne Sprachkenntnisse und mit wenig Geld nach Deutschland kommen. Wie die Jobcenter sie entweder falsch oder gar nicht beraten und oft der Generalverdacht auf Betrug mitschwinge. Wie Sozialämter sie wegschickten, selbst wenn sie obdachlos seien. Wie schwer die Arbeitssuche sei, gar nicht zu reden von der Wohnungssuche. "Die Menschen sind komplett überrascht von der Ablehnung, die sie hier erfahren", berichtet Buzoianu. Manche verfangen sich im Gestrüpp der Hindernisse und müssen sich dann auf dubiose Arbeitgeber einlassen, von denen sie nicht selten ausgenutzt werden.

Trotz allem: Sie wollen bleiben

Auch Familie Vasile erwischte es. Von der Notunterkunft aus gingen der Vater und der 16-jährige Sohn los, um Arbeit zu suchen. Auf einer Baustelle wurden sie fündig, sie erledigten Hilfsarbeiten, trugen schwere Gegenstände, machten sauber. Einen Arbeitsvertrag erhielten sie nicht, versprochen wurde ihnen ein Lohn von fünf Euro die Stunde. Das war illegal, der Mindestlohn lag damals bei 8,50 Euro. Doch am Ende des Monats erhielten sie nicht einmal ihr mickriges Gehalt. Vater und Sohn erinnern sich nur, dass die Leute auf dem Bau Serbisch gesprochen haben, sonst an nichts. Solche Geschichten kursieren überall in Deutschland.

Inzwischen haben die beiden eine Anstellung mit Vertrag gefunden, sie putzen nachts in Berliner Schulen. Da der mittlere Sohn gerade Vater geworden ist, reicht das Geld aber nicht aus, um die Familie zu ernähren, also erhalten sie aufstockende Leistungen vom Jobcenter. Sie leben jetzt in einem Wohnheim, das ihnen die soziale Wohnhilfe vermittelt hat.

Haben sich die Hoffnungen erfüllt, mit denen Familie Vasile vor dreieinhalb Jahren in den Bus stieg? "Ja", Liliana Vasile nickt, "ich würde gerne hierbleiben. Hier ist jetzt unser Zuhause." Eine eigene Wohnung wäre natürlich nicht schlecht. Aber zurück nach Rumänien? "Nein, nein, nein!" Es habe sich dort in so vielen Jahren nichts verändert. "Das wird nichts mehr."

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