Demokratie:Auch Populisten scheitern früher oder später

Regierungskrise in Österreich

Heinz-Christian Strache (hier mit FPÖ-Kollege Norbert Hofer, rechts) wird mit seiner Scheinheiligkeit in die Geschichtsbücher eingehen.

(Foto: dpa)

Europas Parteienlandschaft gerät unter Druck und die Wähler wirbeln die Politik durcheinander. Viele Bürger, so individuell sie auch wählen mögen, haben dabei einen gemeinsamen Wunsch.

Kommentar von Stefan Kornelius

Eine nervöse Unruhe hat Europa nach dieser jüngsten Wahl gepackt. Alte Mehrheiten wanken, neue formieren sich, Populisten heizen die Stimmung auf, Gesellschaften fühlen sich unter Strom gesetzt. So viel Tempo war selten. Europas Bürger leiden einerseits an diesem Geschwindigkeitsrausch; das Gefühl eines Orientierungsverlustes macht sich breit. Andererseits lässt sich nicht übersehen, dass unter der brodelnden Oberfläche Kontinuität und Stabilität herrschen. Wie Erhebungen in 14 der 28 EU-Mitgliedsstaaten ergeben, zeigt sich diese Gefühlsspaltung auch in den Emotionen, die von den Befragten empfunden werden: Angst und Stress überwiegen - und schlagen dann aber auch schnell um in Gefühle des Glücks und des Optimismus.

Dieser emotionale Zwiespalt drückt sich in einem widersprüchlichen Wunsch an die Politik aus: Ändert euch - aber bitte nicht zu sehr. Diese Botschaft wiederholt sich immer wieder, auch wenn Europas politische Systeme heterogen sind und die Parteienlandschaften nationalen Gesetzen gehorchen und deswegen nur bedingt vergleichbar sind. Der Rat vieler Bürger lautet: Schluss mit der Radikalität, die Mehrheit liegt in der Mitte.

Es ist ein Auftrag, den dänische Wähler und tschechische Demonstranten erteilen, er ist zu vernehmen in Polen und selbst in Ungarn. Es überwiegt die Furcht vor dem Systembruch, dem radikalen Schnitt, wie ihn die Briten beschlossen, aber nicht vollzogen haben.

Italiens tief gedemütigte gemäßigte Linke erholt sich gerade von ihren Niederlagen. Und selbst in Großbritannien beweisen Wähler Vernunft, wenn sie bei einer Nachwahl in der Brexit-Hochburg Peterborough der gemäßigten Labour-Kandidatin die Mehrheit geben.

Auch die Bewegung im deutschen Parteiensystem zeugt von einem Stabilitätswunsch: Die Grünen sind die beste Ersatzpartei, die sich die demokratische Mitte wünschen kann - jünger, moderner, unverbraucht und alles andere als systemstürzlerisch. Praktisch tauschen die Grünen die Rolle mit der SPD und bieten einer großen Klientel in der Mitte eine neue Heimat. In den Rohdaten der Forschungsgruppe Wahlen liegen sie jetzt gar sechs Punkte vor der Union - einen besseren Nachweis ihrer bürgerlichen Attraktivität hätten sich Habeck und Co. nicht wünschen können. Ob sie diese Wählerhoffnung erfüllen, werden die Grünen wohl erst in einer Regierung beweisen können. Die Angst vor Enttäuschten verfolgt die Führung schon heute.

Die Stärke individueller Parteien mag sich also ändern, Wählergruppen tun es nicht unbedingt. Der Siegeszug der Rechtspopulisten scheint einstweilen gestoppt zu sein, zu viel Unfähigkeit, Intrigantentum und schlichte Heuchelei haften ihnen an. Heinz-Christian Strache in Österreich wird für diese Scheinheiligkeit in die (regionalen) Geschichtsbücher eingehen. In Deutschland haben es ihm viele Provinzfürsten der AfD gleichgetan, ohne dass man sich an sie erinnern wird.

Europas Parteienlandschaft ist auch deswegen unter Druck geraten, weil die Wähler weniger leicht zu kategorisieren sind und weil sie das von ihnen als unangenehm hoch empfundene Tempo des Wandels an die Politik weitergeben. Gesellschaften werden individueller und erwarten eine individualisierte Politik: Alt und Jung, Stadt und Land, die besonders Rationalen und jene, die emotionaler, impulsiver und vielleicht auch ein wenig schlechter informiert auf Politik reagieren.

Allen Parteien ist gemeinsam, dass sie in einer hocherregten und von Kommunikation übersättigten Öffentlichkeit bestehen müssen, wo sich Wähler so blitzartig wie ein Kabeljauschwarm neu ausrichten - aber genauso verlässlich bald wieder in alten Bahnen schwimmen. Dieses Spiel mit den Stimmungen gelingt den Populisten besser als den Gemäßigten. Aber auch sie scheitern früher oder später an den Wellenbrechern der Demokratie: den Regeln des Rechtsstaats, den demokratischen Verfahren, der Komplexität einer hochausdifferenzierten Gesellschaft.

Radikalisierte Tories könnten das Vereinigte Königreich in die Selbstauflösung treiben

In dieser Aufbruchzeit sind also Regeln von enormer Bedeutung. Ein politsches System mag beben vor Spannung. Ob es aber den Druck aushält oder bricht, entscheidet das Regelkorsett. Für Freunde großer Stabilität funktioniert das deutsche Grundgesetz dabei geradezu vorbildlich. Im anderen Extrem ist es ironischerweise die ungeschriebene britische Verfassung, die sich seit mehr als 300 Jahren evolutiv entwickelt hat und nun die viel gepriesene Stabilität des Systems in einen Albtraum der Blockade verwandelt. Am Ende könnten hunderttausend radikalisierte Tory-Mitglieder für 66 Millionen Briten einen Parteichef und so einen Premierminister bestimmen, der das Land aus der EU und das Vereinigte Königreich in die Selbstauflösung treibt.

Schockierend am britischen Zustand ist die Erkenntnis, dass der Brexit als Jahrhundertereignis in all seiner Schwierigkeit nicht mehr vom Parteiensystem einverleibt und politisch verdaut werden kann. Denn dies bleibt am Ende in allen Systemen entscheidend: Die politische Willensbildung braucht Kanäle, Für- und Lautsprecher, Ordner und Symbolfiguren. Und die finden sich nach aller demokratischen Erfahrung am besten in politischen Parteien.

Italiens Parteiensystem schlingert seit Jahrzehnten von Selbstkorrektur zu Selbstkorrektur. In Frankreich gelingt es oft nur durch die Kraftanstrengung einer Sammlungsbewegung, der Mehrheit der Mitte ins Amt zu verhelfen. Und nirgendwo ist der Drang zur Mitte und der Wunsch nach Ausgleich so ausgeprägt wie in Deutschland, selbst wenn gerade mal wieder vernichtende Urteile über "die Parteien" oder "die Politik" gefällt werden.

Politische Systeme werden illiberal und kippen, wenn sie Parteien verbieten. Politische Systeme leben, wenn ihre Parteien leben. Diese Erfahrung machen die Europäer gerade.

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