EU:Ode an den Frust in Europa

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Triumph durch Frust: Die Hälfte der Österreicher stimmte für die FPÖ (im Bild: Heinz-Christian Strache, links, und Norbert Hofer). (Foto: dpa)

Die Europäische Union steckt in einer dreifachen Krise. Das treibt die Bürger den Rechtspopulisten in die Arme. Aber das lässt sich auch wieder ändern.

Kommentar von Stefan Ulrich

"Ihr habt keine Freude gehabt, in der Fülle der Dinge." Diesen Satz, zu dem ihn das 5. Buch Mose inspirierte, hielt der Psychoanalytiker Erich Fromm der modernen Gesellschaft vor. Selten war er so treffend wie heute in diesem Europa.

In der EU herrscht seit Langem Friede, den meisten Bürgern geht es, gemessen an anderen Weltregionen, ziemlich gut. Die Lebenserwartung ist höher denn je. Und die Probleme, von der Euro-Rettung bis zur Flüchtlingshilfe, ließen sich bei gutem Willen gemeinsam lösen. Die Europäer aber haben es verlernt, sich darüber zu freuen. Sie nehmen Positives als selbstverständlich wahr - und Negatives als Katastrophe.

Seit Jahren frisst sich der Frust fort wie der Holzbock in einem Dachstuhl. Europaskeptische und -feindliche Parteien nähren sich davon. In Polen und Ungarn stellen sie die Regierung. In Italien lauern sie darauf, den proeuropäischen Premier Matteo Renzi zu stürzen. In Großbritannien könnten sie nun dafür stimmen, die EU zu verlassen. Und in Österreich votierte gerade jeder zweite Wähler für einen Rechtspopulisten als Präsidenten. Die Wut gegen "die Eliten" und "das System" hätte beinahe auch Wien überspült, wo der grüne Kandidat Alexander Van der Bellen nur um Haaresbreite gewann.

Drei Krisen treiben die Bürger in die Arme der Rechtspopulisten

Wahlen wie diese sind Ausdruck einer dreifachen Krise - der Europäischen Union, der Demokratie und der Gerechtigkeit. Die EU konnte auf die Zustimmung ihrer Bürger bauen, solange es aufwärtsging. Wachsender Wohlstand und immer mehr Sicherheit schufen Konsens. Doch sie führten nicht dazu, dass sich die Menschen mit Europa identifizierten wie mit ihrem Nationalstaat. Jetzt, da es kaum mehr aufwärtsgeht und viele eher einen Abstieg fürchten, zeigt sich, wo die Loyalitäten liegen. Immer mehr Bürger suchen ihr Heil in der Nation. Die EU ist ihnen nur noch eine Zwangsjacke.

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Erst vor kurzem konnte Großbritannien eine schwere Krise abschütteln. Schatzkanzler Osborne fragt die Briten nun: Wollen wir das alles durch einen Brexit wieder wegwerfen?

Europa wird diese bisweilen ans Wahnhafte grenzende Vorstellung nur korrigieren können, wenn es an seinen Mängeln arbeitet. Dazu gehört es, die Demokratisierung der EU voranzutreiben und das europäische Sozialmodell besser gegen Auswüchse des globalen Kapitalismus zu verteidigen. Die Werteordnung - Rechtsstaat, Pluralismus, Menschenrechte - muss offensiver verfochten werden, gegen halbdiktatorische Regierungen wie in der Türkei und gegen autokratische Tendenzen in der Union selbst, etwa in Polen und Ungarn. Ein selbstbewusstes Europa ist attraktiver als ein kleinlautes.

Die zweite Krise betrifft die Demokratie. Jahrzehnte nach dem Kollaps von Nationalsozialismus, Faschismus und Sowjetkommunismus wünschen sich viele Menschen wieder klare Verhältnisse, wie sie Demokratien meist nicht bieten können. Eine autoritäre Regierung, ein starker Mann, eine geschlossene Nation sollen die verunsicherten Bürger retten.

Es ist Aufgabe aller Demokraten, gegen diese fatale Illusion anzugehen - indem sie autoritäre Politiker und Parteien bekämpfen und zugleich auf die Sorgen von deren Wählern achten. Manches davon ist berechtigt, etwa der Zorn über den Filz der ehemaligen Volksparteien in Österreich und die Verunsicherung angesichts einer bisweilen chaotischen Flüchtlingspolitik.

Hinter dem Ärger über Korruption und vermeintliche Überfremdung scheint die dritte Krise durch: die der Gerechtigkeit. Polen, Franzosen oder Österreicher glauben, zu viel zu geben und zu wenig zu erhalten. Dies vergiftet die Atmosphäre, zwischen den Staaten und in ihnen.

Alle haben den Eindruck, Verlierer zu sein: Deutsche leisten bei der Flüchtlingsaufnahme mehr als andere. Griechische Rentner und Angestellte müssen enorm für Fehler ihrer Politiker und deren mangelhafte Kontrolle durch die ganze EU büßen. Millionen junger Arbeitsloser in Italien, Portugal oder Spanien sehen, wie Deutschland floriert und ihre Länder verpflichtet, noch strenger zu sparen.

So könnten die Rechtspopulisten wieder verlieren lernen

Zugleich bluten alle Europäer für die Folgen einer Finanzkrise, die einige gierige Banker und Manager sowie zu nachlässige Politiker zu verantworten haben. Wenn dann noch die Panama Papers zeigen, wie sich viele Reiche vor ihrem Beitrag zum Gemeinwohl drücken, wenn unfähige Manager Millionen-Boni kassieren, dann schlägt Frust in Verbitterung um - und in Stimmung für Parteien, die das "System" hinwegfegen wollen.

Damit es gerechter zugeht in Europa, muss die EU Lasten und Profite zwischen den Mitgliedsländern fairer verteilen und eisern gegen Steueroasen und Exzesse der Finanzbranche vorgehen; und die Staaten müssen ihre Steuersysteme so reformieren, dass sich der Durchschnittsbürger nicht mehr als der Dumme fühlt. Gelingt das, könnten die Rechtspopulisten wieder verlieren lernen; und die Europäer könnten anerkennen, dass sie trotz allem Grund zur Freude haben.

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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