Süddeutsche Zeitung

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte:Fixstern des Rechtsstaats

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stemmt sich gegen die Erosion der Rechtsstaatlichkeit - und macht sich damit auf, nichts weniger als die Demokratie in Europa zu verteidigen.

Kommentar von Wolfgang Janisch

Es ist noch gar nicht lange her, da glaubte man, das Recht in Europa sei auf der Siegerstraße. In der EU sowieso, niemand konnte sich vorstellen, dass EU-Mitglieder sich zu etwas anderem entwickeln könnten als zu Rechtsstaaten. Aber auch im großen Raum der 47 Staaten des Europarats schien es mühsam, aber stetig bergauf zu gehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, diese große, kühne Idee einer Jurisdiktion weit über das EU-Europa hinaus, entzündete die Lichter des Rechtsstaats in dunklen Regionen.

Bei den Nachrichten aus jüngster Zeit weiß man freilich nicht, ob man hoffen darf oder bangen muss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zwei seiner Dauerkandidaten, die Türkei und Russland, wegen der politischen Verfolgung Oppositioneller verurteilt. Eine Nachricht ist das deshalb, weil das Gericht sonst nicht mit derart offenen Ansagen operiert. Normalerweise listet das Gericht minutiös auf, welche Rechte der Kritiker verletzt worden sind, verschweigt aber die böse Absicht hinter dem Rechtsbruch. In den Urteilen zugunsten von Selahattin Demirtaş und Alexej Nawalny hat der Gerichtshof begonnen, Tacheles zu reden: Die Inhaftierung des Kurdenpolitikers und die Gängelung des russischen Regimekritikers sollen "den Pluralismus ersticken und die Freiheit der Debatte beschränken".

Eine gute Nachricht also: Erstmals wird den beiden Staaten höchstrichterlich bescheinigt, dass sie Oppositionelle politisch verfolgen. Nur fragt man sich, ob das nicht der Anfang vom Ende ist. Der türkische Präsident nannte das Urteil "nicht bindend"; der russische Außenminister stellte die Legitimität des Gerichtshofs infrage. Die Reaktionen zeigen, wie schwer es für die europäische Justiz geworden ist, sich der Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten entgegenzustemmen. Präsidenten wie Erdoğan oder Putin zelebrieren ihre Souveränität; "fremde" Richter haben in dieser Welt keinen Platz. Obwohl sie dort oft einzige rechtsstaatliche Hoffnung der Menschen sind.

Nun zeigen die Urteile in Sachen Nawalny und Demirtaş, dass das Menschenrechtsgericht in Straßburg durchaus über Instrumente verfügt, um auf ein Abrutschen der Rechtsstaatlichkeit zu reagieren. Neu daran ist: Die Urteile gelten nicht mehr nur der Aufrechterhaltung von Mindeststandards, also der Verteidigung des Individuums gegen Folter, willkürliche Inhaftierung oder unfaire Verfahren. Sie zielen unmittelbar darauf, den demokratischen Prozess zu erhalten. Das ausdrückliche Verbot, politische Gefangene zu machen, soll der Opposition ein Mindestmaß an Lebensraum erhalten - weil Demokratie ohne Opposition eben keine Demokratie ist. Die Richter machen sich auf, die Grundbedingungen des Staatswesens zu verteidigen. Den Menschenrechtsartikel, mit dem sie operieren, haben sie "Messinstrument für Demokratie" getauft.

Das ist kein ganz ungefährlicher Pfad, den die Richter da beschreiten, weil ihre notorischen Gegner versuchen werden, sie des politischen Aktivismus zu bezichtigen. Wer aber die beiden Urteile liest, der stellt fest, dass das Gericht bisher mit maximaler Umsicht vorgeht; politische Verfolgung hat das Menschenrechtsgericht nur dort angeprangert, wo sie zweifelsfrei erwiesen war - beyond reasonable doubt.

Ähnlich agiert übrigens das andere Europagericht, der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Die Richter beobachteten, was etwa in Polen geschah, und entwickelten juristische Rezepte, um der Aushöhlung einer unabhängigen Justiz etwas entgegenzusetzen. Auch ihnen geht es um mehr als nur um individuelle Rechte. Im Vertragsverletzungsverfahren wegen der Zwangspensionierung polnischer Richter steht letztlich die Unabhängigkeit der Justiz auf dem Spiel - also das Herz des Rechtsstaats. Und letztlich auch der Demokratie, die ohne die unabhängigen Wächter in der Justiz in Lebensgefahr gerät. Diese Woche konnten die Luxemburger Richter immerhin einen kleinen Erfolg verbuchen: Die polnische Regierung hat eingelenkt und die umstrittene Zwangspensionierung seiner Richter zumindest vorerst zurückgenommen.

Aber man darf sich keine Illusionen machen, in Luxemburg nicht und noch weniger in Straßburg. In Polen wird der Raubbau an der Justiz mit diabolischer Konsequenz betrieben, in Ungarn redet man die Risse im Rechtswesen mit "nationalen Werten" weg, und nun taucht ein weiterer Problemkandidat auf, Rumänien. Urteile allein werden diese Staaten nicht auf den Pfad der Rechtsstaatlichkeit zurückholen. Nicht innerhalb der EU, und schon gar nicht im Europarat, einem Bündnis mit hoher Autokratenquote.

Zwar darf man noch hoffen, dass die Türkei im Klub bleibt, die fast von Beginn an in der Europäischen Menschenrechtskonvention war. Aber Russland, das größte Land im Europarat, das den Straßburger Richtern eine gewaltige Reichweite weit über die EU-Grenzen hinaus verleiht? Russland zahlt seit 2017 keine Beiträge mehr für den Europarat, es ist bereits mit einem Bein draußen. Niemand müsste sich wundern, wenn es nächstes Jahr ganz austreten würde.

Umso wichtiger wäre für den Menschenrechtsgerichtshof gerade jetzt ein starker Rückhalt - an dem es aber immer wieder gefehlt hat. Jahrelang haben die Briten das Gericht torpediert, jüngst reihten sich die Dänen in die Phalanx der Kritiker ein, und am Wochenende stimmt die Schweiz über eine Anti-Straßburg-Initiative ab. Sie alle nörgeln aus ihren nationalen Vorgärtchen heraus und haben das gesamte Panorama aus dem Blick verloren. Denn in einer Zeit, in der immer mehr Staaten den Unterschied zwischen Recht und Unrecht mutwillig verwischen, braucht es mehr denn je eine Instanz, die verbindliche Maßstäbe formuliert. Die Menschen dort benötigen einen rechtsstaatlichen Fixstern. Denn auf ihnen lastet letztlich die Verantwortung, die Verhältnisse in ihren Ländern zu ändern.

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SZ vom 24.11.2018/edi
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