Femke Halsema rang am Mittag nach Worten, um ihr Entsetzen über das Geschehen auszudrücken. „Amsterdam blickt auf eine pechschwarze Nacht zurück“, sagte die grüne Bürgermeisterin der niederländischen Hauptstadt mit ernster Miene. „Und auch heute ist es noch dunkel.“ Sie schäme sich zutiefst, es handle sich um einen der schlimmsten Momente in der Geschichte Amsterdams. „Das ist so erschreckend, so verwerflich, dass ich nicht darüber hinwegkomme.“
Fans des israelischen Fußballvereins Maccabi Tel Aviv, der in der Europa League gegen Ajax Amsterdam spielte, waren in der Nacht auf Freitag verfolgt, bedroht und misshandelt worden. Es kam zu Prügeleien und regelrechten Jagdszenen auf den Straßen Amsterdams, die auf Videos in sozialen Medien zu sehen sind. Demnach lauerten meist arabischstämmige und überwiegend jüngere Männer den Fans nach dem Spiel in der Innenstadt auf, einige bewarfen sie mit Feuerwerk. Laut Polizeichef Peter Holla wurden fünf Personen im Krankenhaus behandelt, 20 bis 30 trugen leichtere Verwundungen davon. 62 Personen seien festgenommen worden. Der genaue Hergang werde jetzt von einem speziellen Team untersucht.
Israels Präsident spricht von einem „antisemitischen Pogrom“
Israels Präsident Isaac Herzog schrieb auf X von „schockierenden Bildern, die wir nach dem 7. Oktober nie wieder sehen wollten“. Die Angriffe seien „ein antisemitisches Pogrom“. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu forderte verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für die jüdische Gemeinde in Amsterdam. Außerdem ordnete er Sonderflüge an, die die Fans nach Hause bringen sollen. Amsterdam reagierte mit einer Notverordnung, von Freitagmittag an galt ein Demonstrationsverbot, die Polizei darf spontane Durchsuchungen vornehmen und soll gefährdete Orte schützen.
In niederländischen Medien erzählten israelische Opfer, wie sie bedroht wurden. Sie seien schon auf dem Weg in die Stadt erwartet worden. Einige von ihnen hätten Taxis genommen, aus Angst vor Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln. „Es waren viele Leute, Muslime, die hinter uns her waren und mit uns kämpfen wollten“, sagte einer. „Sie schrien uns an, belagerten uns und riefen ,Freies Palästina‘. Die Polizei sagte uns, wir sollten schnell in unser Hotel gehen. Am Ende mussten wir fliehen.“ Allerdings gibt es auch Berichte, wonach israelische Fans provozierende Gesänge von sich gaben, eine palästinensische Flagge verbrannten und eine zweite von einem Fenster rissen.
Weltweit äußerten Politiker ihr Entsetzen. Auch Premier Dick Schoof verurteilte die Vorfälle als „vollkommen schändlich und verwerflich“. Es werde alles getan, um die Täter zu finden und zu bestrafen. Es handle sich schlicht um „antisemitische Gewalt. Dass dies 2024 möglich ist, spottet jeglicher Beschreibung“. Es sei makaber, dass so etwas ausgerechnet am Abend des Gedenkens an die Reichspogromnacht von 1938 geschehe. Geert Wilders von der Partei für die Freiheit forderte, Halsema müsse entlassen werden.
Berichten zufolge waren die Niederlande aus Israel vor möglichen Ausschreitungen gewarnt worden. Halsema dementierte, dass es eine Meldung an den Geheimdienst gegeben habe. 800 Polizisten seien im Einsatz gewesen sowie sechs mobile Einheiten, das sei „selbst für Amsterdamer Verhältnisse enorm viel“, zumal es schon am Vorabend einzelne Ausschreitungen gegeben habe. Die Maccabi-Fans seien als eher friedlich bekannt, das Verhältnis zu Ajax sei freundschaftlich. Eine angekündigte propalästinensische Demonstration sei verlegt worden. Polizeichef Holla beteuerte, seine Beamten seien zwar massiv in der Stadt vertreten gewesen, konnten aber bei den „Hit and run“-Aktionen nie schnell genug zur Stelle sein.
Propalästinensische Aktivisten drangen schon mehrmals in das Parlament in Den Haag ein
Die Niederlande und vor allem Amsterdam sind seit dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 einer der Brennpunkte der europäischen Auseinandersetzungen über den Nahostkonflikt. Das Land hat eine lautstarke nordafrikanisch-arabische Community, deren Kritik an Israel von großen Teilen der Linken und der Kulturszene geteilt wird. An der Universität Amsterdam kam es im Mai dieses Jahres zu tagelangen Protesten, die aggressiver waren als anderswo in Europa. Mehrmals drangen propalästinensische Aktivisten in das Parlament in Den Haag ein. Auch bei Kulturveranstaltungen kam es zu antisemitischen Vorfällen.
In der niederländischen Politik sind die israelkritischen Reflexe bis in die politische Mitte hinein relativ stark, das spiegelt sich auch in Meinungsumfragen. Rechts außen wiederum findet sich das extreme Gegenteil: ein Politiker wie Geert Wilders, der Israel und seinen guten Bekannten Netanjahu ebenso reflexartig verteidigt, nicht zuletzt, weil beide ein Feindbild teilen: Muslime und den Islam. Auf beiden Seiten schaukeln sich die Emotionen seit Monaten hoch.
Bürgermeisterin Halsema gerät in diesem Konflikt immer wieder in heikle Situationen. Inhaltlich stützt sie, wie ihre inzwischen mit den Sozialdemokraten fusionierte Partei, die Kritik an der israelischen Politik. Außerdem will sie unbedingt das Demonstrationsrecht und die traditionelle Toleranz der Stadt schützen und Proteste nicht von vornherein abwürgen. Damit macht sie sich angreifbar in einer Stadt, in der Juden historisch eine wichtige Rolle gespielt haben. Im März waren bei der Feier zur Eröffnung des neuen Holocaust-Museums in Amsterdam antisemitische Slogans zu hören. Halsema wurde danach kritisiert, Gegendemonstranten nicht genügend auf Abstand gehalten zu haben. Ähnliche Vorwürfe gab es bei propalästinensischen Demonstrationen zum Jahrestag des 7. Oktober. Wilders forderte damals schon, Halsema müsse „abgesetzt und ausgewiesen“ werden, was wiederum den kollektiven Protest niederländischer Bürgermeister nach sich zog.
Der außerordentlich harschen Reaktion Israels auf die Vorkommnisse liegen vermutlich auch innenpolitische Motive zugrunde. Die Regierung Netanjahu nimmt sie als Beleg dafür, dass Jüdinnen und Juden nirgends auf der Welt mehr sicher sein können außer in Israel, wo sie mit Härte gegen ihre Feinde geschützt würden.
Das für kommenden Donnerstag angesetzte Länderspiel Frankreich gegen Israel in Paris soll wie geplant stattfinden. Aufrufe, das Spiel zu verschieben, „akzeptiere ich nicht“, schrieb Innenminister Bruno Retailleau auf X. „Es würde darauf hinauslaufen, dass wir der Gefahr von Gewalt und Antisemitismus nachgeben.“