Europa in der Krise:Stärker werden in schwierigen Zeiten

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Die EU ist zu groß. Wirtschaftlich zu schwache und demokratisch zu wenig gefestigte Staaten wurden zu früh aufgenommen. Die Idee, ausgerechnet über eine gemeinsame Währung die politische Integration voranzutreiben, hat sich als falsch erwiesen. Trotzdem: Die EU hat viele Umbrüche erlebt, sie wird an der Euro-Krise nicht kaputtgehen.

Kurt Kister

Europa ist auch nicht mehr das, was es nie war. Ein sinnloser Satz? Nein, nicht ganz. Der Begriff "Europa" stand in der Nachkriegsgeschichte auch für einen Traum, für den Traum von einem friedlichen, denationalisierten, schrankenlosen Kontinent. Jahrzehntelang deutete wenig darauf hin, dass dieser Traum jemals ins Reich der Wirklichkeit rutschen könnte. Und dennoch war er gerade für viele Deutsche der Alterskohorte von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl so etwas wie der visionäre Überbau für die praktische Politik.

Europa ist auch nicht mehr das, was es nie war. (Foto: AFP)

Angesichts der tragenden Rolle Deutschlands in der blutigen Geschichte Europas wiesen Aussöhnung und Annäherung den einzigen Weg, auf dem Deutschland zurück in die Geschichte gelangen konnte. Über Montanunion und EWG entstand ein ökonomisch immer mehr zusammenwachsendes, sich selbst allerdings auch überregulierendes Wirtschaftseuropa.

Es war jener wohlwollende Brüsseler Moloch, der Butterberge und Milchseen produzierte. Aber seine Existenz trug auch dazu bei, dass Erbfeindschaften erodierten und anachronistische Diktaturen in Portugal oder Spanien eben nicht mit einem großen Knall endeten, sondern leise und gut subventioniert in Demokratien überführt wurden.

Die politische Integration schritt dennoch weniger weit voran als die wirtschaftliche. Dies hatte damit zu tun, dass kaum ein Nationalstaat, nicht Frankreich, allemal nicht Großbritannien und nicht einmal Deutschland, ernsthaft auf Souveränität zugunsten Europas verzichten wollte. Zum anderen aber endete dieses Europa - Westeuropa - an Mauer und Stacheldraht. Jenseits seiner Ostgrenzen lag das Europa sowjetischer Prägung. Der Ost-West-Konflikt schien die Spaltung des Kontinents zu zementieren und selbst Träume von europäischer Föderation zu unterbinden.

Europa hat die Zeitenwende gut gemeistert

Die Selbstbefreiung der osteuropäischen Staaten vom sozialistischen Mehltau-Autoritarismus läutete die zweite Phase der jüngeren Geschichte Europas ein. Sie begann mit einem schauerlichen Exempel kollektiven Versagens - den mörderischen Konflikten im ehemaligen Jugoslawien.

Nun war die Zeitenwende zu Beginn der Neunziger mit dem Zerfall alter Herrschaften, der Gründung neuer Staaten, der Auflösung der Nachkriegsordnung auch eine Kette von hocherstaunlichen, potenziell durchaus gefährlichen Vorgängen. Plötzlich erfüllten sich Träume, sogar solche, die man nicht einmal zu träumen gewagt hatte.

Europa hat die Zeitenwende grosso modo gut gemeistert. Ja doch, es war schwierig und es gibt immer noch viele Probleme. Die EU ist zu groß, aus politischen Gründen hat man wirtschaftlich zu schwache und demokratisch zu wenig gefestigte Staaten zu früh aufgenommen. Dies hat nicht zu einer Angleichung geführt, sondern die Unterschiede innerhalb der EU noch vergrößert.

Gerade unter den neuen Mitgliedern waren solche, die ihre eben gewonnene Souveränität nicht zugunsten der EU wieder einschränken wollten. Die Ausweitung der Union hat bis zu einem gewissen Grad ihre Unbeweglichkeit, ja partielle Lähmung befördert. Die Idee, man könne ausgerechnet über eine gemeinsame Währung die strukturell begründete Selbstblockade aufheben und die politische Integration vorantreiben, ist vor dem Hintergrund der ökonomischen Erfolgsstory Europas verständlich. Sie hat sich dennoch als falsch erwiesen.

Und trotzdem: Im Vergleich zu jener Zeit, als sich Ost und West atomwaffenbewehrt belauerten, lebt es sich heute viel komfortabler in Europa. Gewiss, die Schuldenkrise verursacht Angst, vor allem in jenen Ländern, in denen sie Rezession, Arbeitslosigkeit und soziale Kürzungen nach sich zieht. Aber dennoch hat Europa gezeigt, dass seine so unterschiedlichen Staaten sogar mit einer fundamentalen Umbruchsituation wie der Zeitenwende Anfang der Neunziger umgehen können. An diese Herausforderung reicht die Euro-Krise nicht heran.

Es ist mittlerweile fast ein Klischee, aber die EU ist tatsächlich in schwierigen Zeiten stärker geworden. Und genau das sollte all jenen zu denken geben, die heute angesichts der Schuldenkrise den Zerfall Europas oder auch nur das Ende des Euro beschwören.

Hie und da haben die Erfordernisse der Realität manchen Traum von Europa überholt. Viele alte Träume werden auch gar nicht mehr geträumt, zum Beispiel, weil man weiß, dass es für die Vereinigten Staaten von Europa noch lange nicht reichen wird. Am schwierigsten scheint es zu sein, politische Institutionen zu schaffen, die wirklich legitimierte Entscheidungsgewalt haben.

Die Währungsunion hätte eigentlich eine Art Wirtschaftsregierung vorausgesetzt, deren stetiger Legitimationsbedarf wiederum nicht von den nationalen Parlamenten erfüllt werden könnte, schon allein, weil es sonst in den Euro-Staaten nahezu jede Woche zeitgleich parlamentarische Debatten und Abstimmungen zu wichtigen Fragen der Währungs-, Finanz- und Steuerpolitik geben müsste. Insofern ist die gerade in Deutschland mit gründlicher Schadenfreude geführte Debatte darüber, was man jetzt zur Lösung der Schuldenkrise alles politisch grundsätzlich ändern müsste, ziemlich absurd.

Europa ist nicht mehr rückgängig zu machen

Solche Änderungen sind nur durchsetzbar, wenn alle 27 EU-Mitglieder sie wollen. Das strikte Prinzip der Gleichbehandlung aller Staaten in der EU verhindert tiefgreifende Reformen, auch weil deren Interessen so unterschiedlich sind.

Dies bedeutet aber auch, dass Krisen nicht systematisch, sondern während sie passieren und mit Notmaßnahmen bekämpft werden. (Das ist ohnehin Merkels Methode, Politik zu machen.) Konkret wird es darauf hinauslaufen, dass die EZB mehr Staatsanleihen aus Krisenländern kaufen wird und das wird sie, trotz aller Inflationsgefahr so lange tun, bis die Südländer - vielleicht mit Ausnahme Griechenlands, dessen Pleite Europa und der Euro notfalls verkraften werden - wieder Geld von anderswoher zu erträglichen Zinsen bekommen.

Man wird sich auf Höchstzinssätze und einen Kontrollmechanismus einigen, und all das wird schon umstritten sein, bevor es in Kraft tritt. In Karlsruhe werden die üblichen Verdächtigen gegen das Procedere klagen.

Aber: Europa ist nicht mehr rückgängig zu machen - nicht von der Haushaltsmisere Griechenlands, nicht von einer britischen Splendid-Isolation-Regierung und nicht einmal von deutschen Verfassungsrichtern, von denen mancher das Grundgesetz so zu interpretieren scheint, als gälten heute noch jene Rahmenbedingungen nationaler Souveränität, die man aus guten, alten EG-Zeiten kennt. Wir müssen mit und in diesem schwierigen Europa leben. Es ist so frei, so friedlich, so grenzenlos, wie es nie zuvor war.

© SZ vom 25.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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