Süddeutsche Zeitung

Europa:Im Zeitalter der Konfusion

Lesezeit: 4 Min.

Wie kann das europäische Projekt fortgeführt werden angesichts der vielen Probleme, mit denen die EU zu kämpfen hat? Peter Graf Kielmansegg fordert eine kulturelle Kraftanstrengung.

Von Werner Weidenfeld

Europa driftet von Krise zu Krise. Der Kontinent findet keine Ruhe. Von der Angst um das eigene Geld, der Anhäufung von Schuldenbergen, der Zweifel an der Solidarität, der Sorge um die Jugendarbeitslosigkeit bis hin zur weltpolitischen Mitverantwortung in einer unfriedlichen Epoche - ein Kontinent erscheint ratlos, verunsichert, auf der Suche nach Orientierung. Bürger gehen auf Distanz zu einem Institutionengefüge, das sie als Bürokratiemonster empfinden.

Die überwältigende Mehrheit der Europäer erklärt dazu, dass sie das alles nicht mehr versteht. Und zugleich erlebt Europa einen dramatischen Machtkampf. Es geht schließlich um die künftigen Abläufe der Entscheidungsprozesse. Alles das zusammen erhält inzwischen die sozialwissenschaftliche Definition als "Zeitalter der Konfusion". Da gilt es, eine geistige Ordnung auf der Baustelle Europa zu bieten.

Peter Graf Kielmansegg wendet sich gegen das "Konsenskartell der politischen Klasse"

Mit dieser hohen Erwartung greift der erkenntnissuchende Leser nach dem neuen Buch mit dem Fragetitel "Wohin des Wegs, Europa?" Einer der profiliertesten politikwissenschaftlichen Denker hat zur Feder gegriffen: Peter Graf Kielmansegg. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat er etliche Standardwerke zum politischen System, zur Demokratie, zum Verfassungsstaat, zur Volkssouveränität verfasst - zuletzt das anregende Buch "Grammatik der Freiheit". Es ist gleichsam ein seismografisches Indiz, wenn solch ein Demokratie-Experte nicht mehr umhinkommt, sich der Herausforderung "Europa" zu stellen. Also machen wir uns als Leser auf den Weg und sind gespannt, ob wir die begehrten Antworten auf die vielen uns bedrängenden Fragen nun finden.

Zu Beginn liest man einige konventionelle, freundliche Bemerkungen, wenn etwa von der Erfolgsgeschichte Europas die Rede ist. Die Integration wird "als eine der kreativsten politischen Leistungen der Geschichte" gewertet. Dann aber stutzt man, wenn nämlich Kielmansegg von der "Sakralisierung der deutschen Europapolitik" und vom "Konsenskartell der politischen Klasse" spricht und beides heftig kritisiert.

Die Zeitgeschichte hat doch härteste Kontroversen und parlamentarische Kampfabstimmungen geboten: um die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die Römischen Verträge, den Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag bis hin zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

Beim Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag musste sogar eine völlig sinnentstellende Präambel vorweg gestellt werden, um eine Mehrheit im Deutschen Bundestag zu organisieren. Bei der Einführung des Euro musste gar der Finanzminister und CSU-Vorsitzende Theo Waigel mit dem Rücktritt drohen, um die Mehrheit im Bundesrat zu sichern. Unter "Konsens-Kartell" versteht man wohl etwas anderes.

Dieses Konsens-Kartell wurde eher erst in jüngeren Jahren zum Krisenmanagement der Euro-Probleme gepflegt, um Mehrheiten zu sichern. Es sind also höchst zeitgenössische Befangenheiten und nicht ununterbrochene historische Fesselungen. Aber dann nennt der Autor doch die Schlüsselthemen, die jeden aufmerksamen Europäer umtreiben sollten: Es geht um die Erkenntnis, ob und wie der Integrationsprozess auf die Demokratie des 21. Jahrhunderts einwirkt und welche Entwicklungsperspektive sich dem Kontinent daraus eröffnet.

Im Kern dreht es sich nicht um irgendwelche institutionellen Kompetenz-Details, sondern um die öffentliche Selbstwahrnehmung Europas und um den pluralen, kontroversen Diskurs, den jede Demokratie benötigt. Auf europäischer Ebene ist aber wohl beides bisher eher abwesend. Dabei ist die Verquickung der Sachverhalte in Europa enger als irgendwo sonst. Kielmansegg schreibt dazu: "Das europäische Integrationsprojekt könnte in dieser Konstellation Modellbedeutung für die Welt gewinnen. Ob das eine realistische Erwartung ist, ist freilich die Frage." Der Leser bleibt also zunächst weiter auf der Suche nach der Antwort.

Die positiven bilanzierenden Schlüsselstichworte des Autors lauten: Frieden und Wohlstand. Passivposten sind: internationale Handlungsunfähigkeit' Zentralisierungstendenz' Widerspruch von Erweiterung und Vertiefung' Kosten der Krise. Die Schlussfolgerung, die Kielmansegg aus dieser Bilanz zieht, mündet in ein Plädoyer für die lernende Europapolitik. Zutreffender könnte das Urteil nicht ausfallen. Europa braucht den Lernprozess. Fairerweise muss man allerdings feststellen, dass die Europäische Union immer nur in Zeiten des politischen Sonnenscheins gegenüber jedem Lernen resistent war. In Zeiten der Krisen konnte sie ihre Lernprozesse nicht vermeiden. Krisen sind eben Zeiten des Lernens.

"Lässt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?" Zweifel sind angebracht

Mit einer Entgrenzung Europas kann sich der Autor nicht anfreunden und stellt sich der Kontroverse mit seinen Kollegen, die sich Europa noch kosmopolitischer vorstellen, als es ist. Das Kapitel über die Grenzen Europas endet mit einem Fragenkatalog - und die nächste Frage folgt dann sofort genauso dringlich: "Lässt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?"

Die immense Rechtsetzungsmacht über mehr als 500 Millionen Europäer lässt die Lösung der Demokratiefrage als unabdingbar erscheinen. Wie soll in der Tradition der Volkssouveränität ein politisches System denn sonst seine Legitimation erhalten? Ohne solche normativen Grundlagen wäre Europa auf Dauer weder handlungsfähig noch akzeptierbar. Um die demokratische Verfahrenslegitimität ist es allerdings in der Europäischen Union nicht gut bestellt. Viel gedankliche Kraft wendet der Autor auf, um diese Thematik auszuleuchten. Denn das ist - sehr präzise beschrieben - der Kern des Problems: Die Verfahrenslegitimität bedarf der kollektiven Identität als kultureller Grundierung. Und diese kollektive Identität ist in Europa bisher schwach entwickelt.

Die große Antwort des Buches lautet also: Arbeitet an der Identität Europas! Europa erlebt sich bisher weder als eine Kommunikationsgemeinschaft noch als eine Erinnerungsgemeinschaft und auch nicht als eine Erfahrungsgemeinschaft. Allerdings lassen die immer näher an Europa heranrückenden Kriege, die medial in jedem Flecken des Kontinents präsent sind, die Fortschritte zur Erfahrungsgemeinschaft spürbar werden.

Der Kontinent muss also Zukunftsstrategien entwickeln, die Elemente der Erfahrungsgemeinschaft in stabile Formen der Identität übertragen lassen. Es geht dabei nicht um irgendeine Klein-Klein-Lösung im routinierten Tagesgeschäft, es geht um große kulturelle Kraftanstrengungen. Mit Recht kritisiert Kielmansegg, dass unscharfe Zielbegriffe der Europäischen Union nicht helfen. Das sind Pseudo-Orientierungen, die in die Leere führen.

In Sachen Europa handelt es sich also um eine intellektuelle Herausforderung besonderer Art. So wie die Europäische Union ein Gebilde sui generis ist, so ist auch die Notwendigkeit einer tragfähigen und überzeugenden Zukunftsstrategie für Europa eine Herausforderung sui generis. Das herkömmliche Begründungspathos hilft dabei nicht weiter. Es bedarf anderer intellektueller und politisch-kultureller Anstrengungen.

Am Ende der Lektüre spürt der Leser: Das ist mehr als die übliche Routine-Darstellung der Integration Europas. Das Buch bietet größeren Tiefgang, eine andere Art der Nachdenklichkeit. Neben dem erstaunlichen Maß an institutioneller Vernunft des Integrationsprozesses werden die massiven Defekte und Defizite bestens greifbar. Man ist nun geneigt, dem Autor einen lobenden und zugleich fordernden Zuruf mit auf den Weg zu geben: Graf Kielmansegg - schreiben Sie bitte bald einen Folgeband zu dem Thema, der uns auf die vielen Fragen, die Sie in dem Buch immer wieder aufwerfen, auch alle Antworten liefert. Schließlich wissen wir: Der Kontinent der Fragzeichen hat ein Verlangen, ja eine Sehnsucht nach den Antworten.

Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München. Zuletzt erschien von ihm: "Europa - eine Strategie".(Kösel-Verlag, München 2014).

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SZ vom 16.06.2015
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