Europa im Umbruch:Neue Grenzen schaffen neue Probleme

Crisis in Ukraine - Pro-Ukraine rally in Simferopol

Pro-ukrainische Demonstrantinnen am 8. März in Semferopol.

(Foto: dpa)

Ein Staat soll für die Bürger da sein und nicht umgekehrt. Warum sollen sich Menschen dann nicht ihren Staat schneidern dürfen, auf der Krim, in Schottland, in Venetien? Ganz einfach: Der Preis dafür ist viel zu hoch.

Ein Kommentar von Stefan Ulrich

Machtwechsel in Rom. Die italienische Regierung zweifelt die Autonomie Südtirols an. In Bozen kommt es zu Protesten der Deutschsprachigen. Sie fordern Freiheit von Rom. Die Regierung in Wien schickt Soldaten ohne Abzeichen über den Brenner. Südtiroler Schützenverbände blockieren Carabinieri-Kasernen. Bevor die italienische Regierung reagieren kann, wird ein Referendum abgehalten. Die Mehrheit der Südtiroler stimmt für die Wiedervereinigung mit Österreich. Tausende Italienischsprachige werden vertrieben. Die EU verhängt Sanktionen gegen Wien.

In Deutschland wettern Sahra Wagenknecht und Peter Gauweiler, die Siegermächte hätten dem Habsburgerreich nach dem Ersten Weltkrieg böse mitgespielt und es in die Enge getrieben. Europa sei schuld an der Misere. Jetzt solle man den Phantomschmerz Österreichs respektieren, zu dessen Einflussbereich Südtirol gehöre. Niemand möge Wien mit dem Völkerrecht kommen - schließlich verletzten die Amerikaner es auch.

Viele zeigen Verständnis

Ein absurdes Szenario? Nicht, wenn man Italien durch die Ukraine ersetzt, Südtirol durch die Krim, Österreich durch Russland und das Habsburgerreich durch die Sowjetunion. Dann wird das Szenario Wirklichkeit: Russland hat der Ukraine die Krim entrissen. Viele in Deutschland zeigen Verständnis dafür, weil Moskau nach dem Zerfall des Sowjetreiches "Demütigungen" habe ertragen müssen.

Nun sind Staaten nicht für die Ewigkeit gemacht. Sie entstanden durch Kriegsglück, Hochzeiten, Kaufgeschäfte. In vielen Teilen der Welt werden sie infrage gestellt, weil Völker sie als Käfige empfinden. Staaten schrumpfen oder verschwinden, neue entstehen, oft unter Geburtswehen, in jüngster Zeit etwa Osttimor, Kosovo oder Südsudan. Auch in Westeuropa kommt die Staatenwelt in Bewegung. In Belgien wollen sich Flamen von Wallonen trennen. Schotten und Katalanen werden im Herbst über ihre Unabhängigkeit abstimmen. Italien franst aus. Von Südtirol bis Sizilien wird nach Unabhängigkeit gerufen. Im Veneto stimmten diese Woche Hunderttausende über eine souveräne Republik unter dem Markuslöwen ab.

Wo Russen wohnen, soll Russland sein

Warum sollten da nicht die Russen auf der Krim der Ukraine adieu sagen und sich Väterchen Putin anschließen? Tatsächlich werden im Umfeld des russischen Präsidenten Kosovo, Schottland und Venetien zur Rechtfertigung des Griffs nach der Krim herangezogen. Was ist da einzuwenden? Sagt doch der Volksmund: Der Zweck des Staates ist das Glück seiner Bürger. Nicht umgekehrt.

Die Weltordnung wird derzeit von oben und unten umgestaltet. Während die Globalisierung Grenzen auflöst, suchen die Menschen neue. Das Bedürfnis nach Heimat wird umso stärker, je mehr sich die Welt vernetzt. Das gilt besonders für Europa. Gerade weil die EU so offen ist, sehnen sich viele nach einem kleineren Haus, in dem nur die eigenen Sitten herrschen. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Wladimir Putin mit seiner Maxime "Wo Russen wohnen, soll Russland sein" auf solches Verständnis stößt.

Vieles scheint für die Revision der Grenzen zu sprechen: das Selbstbestimmungsrecht der Völker; die Korrektur historischer Willkür wie der Zuschlag der Krim an die Ukraine, Südtirols an Italien; das Erwachen regionaler Kulturen etwa in der Bretagne; die Entfremdung vom bisherigen Staat, in Texas, in Québec.

Der Preis wäre hoch

Wenn der Staat für die Menschen da sein soll, warum sollen sich die Menschen dann nicht ihren Staat schneidern dürfen? Weil der Preis einer Neuordnung hoch ist. Die Bürger Jugoslawiens haben dessen Zerfall mit albtraumhaften Jahren bezahlt. Sezessionen brachten eben keine völlige Befriedung, sondern neue Sezessionsbestrebungen hervor, etwa in Bosnien-Herzegowina. Wenn eine Minderheit in einem Staat sich abspalten darf, was darf dann die Minderheit in der Minderheit? Würde Südtirol unabhängig, könnten dann die Ladiner im Grödnertal eine Republik ausrufen? Was geschieht mit den Tartaren der Krim? Und warum gesteht Putin Tschetschenen und Tschuwaschen nicht dieselbe Selbstbestimmung zu wie den Russen in der Ukraine?

Wer Grenzen neu zieht, schafft oft neue Probleme. Osttimor oder Südsudan sind kaum überlebensfähig. Katalanen, Veneter oder Schotten erhoffen sich dagegen von einer Staatswerdung wirtschaftliche Vorteile, ließen aber umso größere soziale Verwerfungen im Rest Spaniens, Italiens und Großbritanniens zurück. Alte Konflikte, etwa um Nordirland, flackerten blutig wieder auf. Noch gefährlicher als die Atomisierung der Staatenwelt ist das Streben nach neuen, völkisch fundierten Nationalstaaten. Alle Kurden nach Kurdistan. Alle Albaner nach Albanien. Auslandsungarn heim nach Budapest. Russland, wo Russen leben. Solche Ambitionen bedeuten Krieg. Wer die ethnische Karte spielt, beschwört die Selbstzerfleischung Europas wieder herauf.

Die EU könnte helfen

Der russische Präsident spielt die völkische Karte, gestern in Georgien, heute in der Ukraine, morgen vielleicht im Baltikum. Dabei stellt die EU ein Drei-Ebenen-Modell in Aussicht, das alle Konflikte entschärfen könnte: Die Union, ihre Mitgliedsstaaten und ihre Regionen kümmern sich stufenweise um das Wohl der Bürger. Sie geben ihnen einerseits eine Stimme in der globalisierten Welt und andererseits Wurzeln in ihrer Heimat. Sezessionen werden dadurch überflüssig.

Konkret: Südtirol lebt prächtig mit dem Status quo. Südtiroler, Italiener und Österreicher demonstrieren der Welt, was guter Wille und Vernunft bewirken können. Würde die Krim diesem Modell folgen, wäre es ziemlich egal, ob ihre Bürger Pässe der Ukraine oder Russlands trügen. Russland aber verstellt sich unter Putin diesem Weg und gibt sich einer beleidigten Sowjet-Nostalgie hin. Weil es Putins Reich an Attraktivität für die Nachbarn fehlt, flüchtet es sich in Gewalt. Das kann man aus der Geschichte heraus erklären. Man muss es jedoch nicht billigen.

Wenn Staaten dem Glück der Menschen dienen sollen, dürfen die Menschen nicht den Interessen von Nationalstaaten geopfert werden. Putin aber instrumentalisiert die Auslandsrussen, um seine Macht zu mehren. Wer bedenkt, wie der russische Präsident die Sowjetunion verklärt, wird sich nicht wundern. Verblüffend aber ist, wie viele Deutsche Putin Sympathie entgegenbringen - und die Ängste der Polen, Letten, Ukrainer übergehen. Man müsse Putin verstehen, heißt es. Doch wer versteht die Polen, die Balten mit ihrer Geschichte zwischen den Kolossen? Wer erklärt ihnen, warum sich manche Deutsche wieder auf ihrem Rücken mit Russland verständigen wollen? Europa braucht kein neues Nationalgetöse und keine neuen Grenzen in einer Zeit, in der die Welt zusammenwächst.

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