Europa im Jahr 2012:Rette sich, wer kann

A blind beggar asks for alms outside a Christmas decorated shop i

Weihnachten in Athen: Nach einem schwierigen Rettungsjahr braucht Europa nun menschliche Solidarität

(Foto: dpa)

So viel Rettung wie im Jahr 2012 war nie: der Euro, Griechenland, Europa, die Banken, das System und seine Glaubwürdigkeit - alle brauchten Hilfe. Doch die Menschen, sie hatten davon bisher wenig. Vielleicht sieht man nun an Weihnachten, wie es mit dem Kontinent weitergeht: Denn Europa braucht menschliche Solidarität, um gerettet zu werden.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Die Stücke des Dramatikers Samuel Beckett handeln vom vergeblichen Warten: darauf, dass einer kommt oder darauf, dass einer geht. Die Menschen in diesen Stücken wissen einfach nicht, was sie tun sollen: Sollen sie in der Untätigkeit verharren? Oder sollen sie diese Untätigkeit durch eine Entscheidung durchbrechen?

Und weil sie sich nicht entscheiden können, flüchten sie sich in Rituale, die immer leerer werden; oder sie erzählen Geschichten, die immer dünner werden. Das Stück über das vergebliche Warten darauf, dass einer kommt, heißt "Warten auf Godot"; das Stück über das vergebliche Warten darauf, dass einer geht, heißt "Endspiel". Beide Stücke werden derzeit in Europa gespielt; nicht im Theater, sondern in der Realität.

Warten auf das Rettende, Erlösende. In Becketts "Endspiel" fragt in einem dunklen Zimmer ein Mann namens Hamm voller Angst: "Was ist los? Was passiert eigentlich?" Und der andere, der Clov heißt, antwortet: "Irgendetwas geht seinen Gang." Das ist keine schlechte Beschreibung für das, was die Menschen in der Finanz-, Staatsschulden-, Euro- und Griechenlandkrise fühlen.

Das Gefühl, dass Europas Zukunft an mangelnder Solidarität zerbricht

Irgendetwas geht seinen Gang: Bei Beckett sind das die Dialogfetzen aus der Tragödie vom Erlöschen des Lebens. So schlimm ist es in Europa nicht. Aber das Gefühl, dass etwas in Europa ungut seinen Gang geht, dass Europas Zukunft an mangelnder Solidarität zerbrechen könnte, ist schlimm genug.

Dabei war das Jahr 2012 das Jahr der Rettung. So viel Rettung war nie; in jeder Nachrichtensendung wurde gerettet: der Euro, Griechenland, Europa, das Geld, die Banken, die Wirtschaft, das System und seine Glaubwürdigkeit. Das Vertrauen natürlich auch: das Vertrauen der Märkte darauf, dass sie gut bedient werden; das Vertrauen der Bürger, dass sie ebenfalls gut bedient werden; und das Vertrauen darauf, dass beides gut zusammenpasst, auch wenn es nicht zusammenpasst.

Wo Rettung ist, da sind auch Retter - Kommissare und Investoren, Regierungschefs und Minister; sie steigen aus Limousinen, tagen in Perpetuum-mobile-Tagungen, treten vor die Kameras und berichten in wechselnden Posen: beschwichtigend und beschwörend, halbherzig und forsch; sie kündigen die angeblich alternativlosen und dann doch wieder revidierten Programme an. Diese Retter sind mächtig oder tun jedenfalls so; sie umgeben sich mit den Insignien der Macht.

Euro-Rettung ohne Solidarität mit den Armen

Und nun also Weihnachten, es kommt noch ein Retter - einer, der ganz anders ist, der mit der geschilderten Rettungsroutine nichts zu tun hat, dem aber auch überaus routiniert, mit romantischer Routine, gehuldigt wird - mit einem Lied an Heiligabend, in dem es heißt: "Christ, der Retter ist da-ah!" Ein merkwürdiger Retter, es handelt sich um einen Säugling, der aber angeblich göttlich ist. Insignien der Macht gibt es bei ihm nur insofern, als seine Ankunft von Engeln gemeldet wird.

Das kann mit TV, Twitter und Nachrichtenagenturen mithalten: "Euch ist der Retter geboren", lautet die Botschaft, und sein Zeichen soll sein, dass er in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Retter? So nannten sich zur Zeit von Christi Geburt nur die Kaiser des römischen Weltreichs: "Soter tes oikumenes" auf Griechisch, Retter des Erdkreises. Windeln und Krippe als Embleme für sie - das war undenkbar; allein schon, beides in Verbindung zu bringen, war eine Provokation!

Einer der Ehrentitel des Augustus war "der Erhabene". Zum Erhabenen passen keine vollgeschissenen Windeln. Rettung im biblischen Sinn ist aber gerade nicht erhaben über das Volk; sie ist in Tuchfühlung mit den Nicht-Betuchten. Rettung soll daher, so wird verkündet, "den Menschen ein Wohlgefallen" sein. Von der Euro-Rettung kann man das nicht sagen.

In Europa werden nicht Menschen, sondern Machtgefüge gerettet

Die Euro-Rettung geschieht nicht in Solidarität mit den Nicht-Betuchten. Sie ist eine ver-rückte Rettung. Mit der Rettungssemantik wird suggeriert, es ginge um die Menschen. Gerettet werden aber Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; sie sollen überleben. Ob und wie Menschen dabei überleben, ist sekundär. Bei den Nachrichten aus den EU-Südländern über die Folgen der Sparprogramme erinnert man sich an einen medizinischen Kalauer, der hier bittere Realität wird: Operation gelungen, Patient tot.

Weil in den Südländern die Währung, da sie ja jetzt gemeinschaftlich ist, nicht mehr abgewertet werden kann, werden die Beschäftigten abgewertet und die Nichtbeschäftigten ausgehungert - zum angeblichen Wohl des Großen, des Ganzen und der EU. Die Fluchtwege für das Finanzkapital aus den Südländern in die Schweiz und in sonstige Refugien werden dagegen nicht versperrt. Und in den nordeuropäischen Ländern verweigert man sich dem rettenden Schuldenerlass, will nicht teilen, nicht verstehen, dass das für alle, für ganz Europa, gut wäre.

Den meisten Griechen und Millionen von arbeitslosen Jugendlichen in den EU-Südländern ergeht es so wie Gustl Mollath, dessen Fall in Deutschland so viele Menschen erregt hat: Mollath wurde zur angeblichen "Sicherung und Besserung" für Jahre ins Kuckucksnest eingewiesen - wo sich alles verschlechterte. Rette sich, wer kann vor solcher Rettung!

EU-Kommissionspräsident Barroso hat in seiner Weihnachtsbotschaft Hoffnung auf die Rüstungsindustrie gesetzt: Die werde gute Arbeitsplätze für Jugendliche schaffen. Das sagt der Vertreter des Friedensnobelpreisträgers. Rette sich, wer kann.

Menschenfreundliche Rettung

Die Rettung, von der die Weihnachtsengel künden, ist viel menschenfreundlicher. Sie hat aber den Nachteil, dass sie nun seit zweitausend Jahren angekündigt wird, aber nicht kommt. Das liegt daran, dass zu viele Leute immer wieder erwartet haben, dass irgendwas passiert, dass irgendwer kommt: ein Godot, ein Gott, eine Revolution. Oder dass irgendwas oder irgendwer verschwindet: ein Diktator, die Ausbeutung, das Elend. Die Rettung kommt aber nicht durch irgendwas oder irgendwen, sondern vor allem durch einen selber. Der Weihnachtsretter will sehend machen - den Blick auf Menschen lenken, die in Rettungsreden nicht vorkommen.

Man sieht dann die spanische Mutter, die sich aus dem Fenster stürzt, weil sie mit ihren Kindern aus der Wohnung gewiesen wird. Man sieht den älteren Herrn, der im griechischen Café den Gast höflich um den Keks auf dem Teller bittet, weil er Hunger hat. Man sieht den Alten im deutschen Altersheim in seiner dreckigen Windel liegen, weil gerade keiner Zeit für ihn hat.

Weihnachten kann sehend machen - darin liegt Hoffnung. Vielleicht sieht man dann auch, wie es mit Europa weitergeht. Europa braucht menschliche Solidarität, um gerettet zu werden. Solidarität ist eine weihnachtliche Botschaft. Solidarität ist das, was allen guttut.

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