Süddeutsche Zeitung

Ausblick auf 2019:Wohin steuert Europa?

Lesezeit: 6 min

Brexit, Euro, Migration - und die wegweisende Europawahl: In welche Richtung geht, schleicht oder schlittert die Union? Ein Überblick über die wichtigsten Themen.

Von Thomas Kirchner

Ein Blick auf die EU, ein halbes Jahr vor der Europawahl, offenbart ein zwiespältiges Bild. Die Union der Europäer scheint sich gefangen zu haben. Sie existiert nicht mehr in jenem Dauerkrisenmodus, der die Mitte des Jahrzehnts prägte, und sie wirkt nicht mehr unmittelbar vom Zerfall bedroht. Andererseits ist kein Fortschritt zu erkennen, weil es keine Richtung gibt, in die die Mitgliedstaaten gemeinsam gehen, kein Projekt, hinter dem sich alle versammeln könnten. Immer breiter tun sich Bruchlinien auf, zwischen Ost und West in Sachen Migration und Rechtsstaatlichkeit, zwischen Nord und Süd in wirtschaftspolitischen Fragen.

Und auch in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten selbst. Die Mitte mit den klassischen Volksparteien erodiert. Globalisierung und Migration erzeugen Abstiegsangst und Unsicherheit, und als würde nicht schon genug gestritten, gelingt es rechten und manchmal auch linken Populisten, das Trennende noch zu vertiefen - auch mithilfe sozialer Medien, deren Mechanismen noch nicht genau verstanden sind. Das alles trägt bei zu einer Vertrauenskrise in die Demokratie und das politische System insgesamt, auf nationaler wie europäischer Ebene.

2018 hätte ein gutes Jahr für die EU werden können. Die Wirtschaft in Europa läuft, die Arbeitslosigkeit ist fast überall gesunken. Die Verhandlungen über den Brexit waren auf gutem Weg, eine vernünftige Lösung schien erreichbar zu sein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wartete nach seinen ehrgeizigen Reformvorschlägen für die EU auf ein positives Signal aus Berlin. Und die EU-Spitzen nahmen sich vor, bis zum Sommer alle großen Probleme aus dem Weg zu schaffen.

Geschafft haben sie das nicht, sie haben die Lösungen wieder vertagt. Macron ist geschwächt durch den Protest der Gelbwesten. Aus Deutschland kam wenig Hilfe, die neue Bundesregierung war mehr mit sich selbst beschäftigt. Einzig die Konjunktur ist noch auf Kurs, auch wenn sich, nicht zuletzt wegen zunehmend konfliktbeladener internationaler Beziehungen, Wolken am Himmel zeigen.

Und 2019? Wird, folgt man dem politischen Kalender der EU, ein "Übergangsjahr", das heißt, es geht mehr um das Personal als um Inhalte: Das Europäische Parlament wird neu gewählt, die Kommission wird ausgewechselt, und die Staats- und Regierungschefs müssen über die Nachfolge von Ratspräsident Donald Tusk entscheiden. Einige Vorhaben werden noch abgeschlossen, etwa das Verbot von Einweg-Plastik. Aber gemütlich wird es sicher nicht werden in der EU, eher stürmisch bleiben, schon allein wegen der innenpolitischen Krisen in Großbritannien und Frankreich. Ein Überblick.

Migration: Dauerlähmung

Wie wenig sich in der Flüchtlingskrise politisch bewegt, zeigte der jüngste EU-Gipfel Mitte Dezember. Die Schlussfolgerungen sind ein Dokument des Stillstands. Was den von allen Seiten gewünschten Ausbau der Grenz- und Küstenwachtruppe Frontex zu einer echten europäischen Kraft betrifft, appellierten die Staats- und Regierungschefs nur an Parlament und Rat, sie sollten "die Verhandlungen schnell abschließen". Hinsichtlich der besonders strittigen Dublin-Reform, also der Frage, ob und wie Flüchtlinge in Europa verteilt werden sollen, blieb es bei einem Aufruf zu "weiteren Bemühungen". Italien, Deutschland und andere Länder fordern verpflichtende Aufnahme-Quoten für alle EU-Länder. Vor allem mittel- und osteuropäische Staaten weigern sich. Sie wollen niemanden aufnehmen und sich eventuell anderweitig einbringen. Einen kompletten Freikauf aber lehnt unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel ab.

Ansonsten klopften sich die Spitzenpolitiker auf die Schulter, dass als Ergebnis ihrer Politik "die Zahl der festgestellten illegalen Grenzübertritte auf das Vorkrisenniveau zurückgeführt wurde und dass sich der allgemein rückläufige Trend fortsetzt". Leider stimmt das nur bedingt. Nach Spanien setzten 2018 mehr als doppelt so viele Migranten über wie im Vorjahr, von der Türkei aus betrug der Anstieg 30 Prozent. Allein auf der zentralen Mittelmeerroute haben die - umstrittenen - Vereinbarungen zwischen Italien und Libyen die Einwanderung aus Afrika noch weiter begrenzt. Insgesamt liegen die Zahlen zwar deutlich niedriger als 2015, aber höher als 2017. Die Entwicklung im westlichen und östlichen Mittelmeer erfordere dauerhafte Aufmerksamkeit, heißt es in einem Papier des Rats der Mitgliedstaaten, aus dem das Magazin Politico zitierte.

Am Grundproblem in diesem Dossier wird sich auch 2019 nichts ändern: Fortschritt gibt es nur im äußersten Krisenfall. Sobald die Zahl der Ankommenden, wie jetzt, halbwegs unter Kontrolle zu sein scheint, fehlt der politische Druck für eine Einigung. Es wird also voraussichtlich bei der Blockade bleiben. Zu lösen ist sie nur, wenn entweder die Osteuropäer oder Quotenbefürworter wie Angela Merkel einlenken. Beides ist unwahrscheinlich. Möglich ist allenfalls, dass, wie die EU-Kommission vorschlägt, die unumstrittenen Teile aus dem Asylpaket herausgelöst und verabschiedet werden.

Euro: zu wenig für die nächste Krise?

Für die gemeinsame Währung gilt das gleiche wie für die Migrationspolitik: Anscheinend war die tiefe Euro-Krise von 2012 bis 2015 nicht tief genug, um bei allen echten Reformeifer zu erzeugen. Von Macrons Agenda aus der Sorbonne-Rede 2017 ist wenig übrig geblieben. Es wird den von ihm geforderten Haushalt für die Euro-Zone geben, allerdings nicht als separaten Geldtopf, sondern als Teil des EU-Haushalts. Über "Design, Modalitäten der Einführung und Zeitplan" sollen die Finanzminister bis zum Juni entscheiden.

Wie viel Geld enthält der Etat? Macron dachte an Hunderte Milliarden, Merkel will höchstens eine Zahl im "unteren zweistelligen Milliardenbereich", andere wollen viel weniger oder gar nichts. Wie hoch das Budget wird, soll erst bei den Verhandlungen über den mehrjährigen EU-Finanzrahmen für 2021 bis 2027 entschieden werden. Hier wird eine Einigung bis Herbst 2019 angestrebt, nach allgemeiner Auffassung aber erst 2020 gelingen.

Absehbar wird die Summe nach Ansicht mancher Experten viel zu niedrig sein, um das Grundproblem der Währungsunion zu beheben: die Heterogenität der Euro-Volkswirtschaften. Einen Ausgleich könnte ein permanenter Umverteilungsmechanismus schaffen. Diesen Gedanken lehnen viele Regierungen strikt ab, allen voran eine Gruppe von überwiegend nördlichen Staaten, die sich unter niederländischer Führung zur "Neuen Hanse" zusammengeschlossen haben.

Bis Juni soll auch der Euro-Rettungsfonds ESM ausgebaut werden. Er soll enger mit der EU-Kommission bei der Bewertung der Wirtschafts- und Finanzlage der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten und eine größere Rolle bei der Überwachung von Krisenprogrammen spielen. Von der Idee, eine Art Europäischen Währungsfonds zu schaffen, analog zum Internationalen Währungsfonds, ist kaum etwas geblieben. Immerhin wird es nun einen "Backstop" für Pleite-Banken geben, der beim ESM angesiedelt ist. Er springt ein, wenn ein von den Banken selbst geschaffener Fonds nicht ausreichen sollte und soll das Vertrauen ins Finanzsystem stärken.

"Die Vereinbarungen reichen auf keinen Fall, um den Euro krisenfest zu machen", sagt Fabian Zuleeg vom European Policy Center in Brüssel. "Aber es sind immerhin erste Schritte, denen 2019 wohl weitere kleine Schritte folgen werden."

Rechtsstaatlichkeit: keine Lösung in Sicht

Die EU versus Polen und Ungarn: Dieser Streit wird der Union erhalten bleiben. Beide Länder sind im Begriff, ihr Staatswesen, vor allem die Justiz, auf eine Weise umzubauen, die mit Grundwerten der EU schwer zu vereinbaren ist. Gegen beide Länder laufen Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Art. 7 des EU-Vertrags, im Falle Polens von der EU-Kommission angestrengt, im Falle Ungarns vom Europäischen Parlament.

Über die nächsten Schritte müsste nun der EU-Ministerrat mit Vierfünftelmehrheit entscheiden. Kommt es 2019 dazu? Sehr wahrscheinlich ist das nicht. Der Preis eines Hinauszögerns wäre, dass die EU ihr Fundament beschädigt. Immerhin hat Polen zuletzt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs akzeptiert und die Wiedereinstellung frühpensionierter Richter gestattet. Das zeigt: Ganz hilflos ist die EU nicht; geht sie konsequent vor, kann das Wirkung zeigen. Und irgendwann könnten ja auch wieder liberalere Regierungen in den widerspenstigen Staaten an die Macht kommen.

Brexit: No Exit?

Die Situation ist äußerst verfahren. Das Austrittsabkommen mit der EU ist ausgehandelt, es fehlt nur die Zustimmung des britischen Parlaments. Im Dezember ging Premierministerin Theresa May der Abstimmung angesichts einer sicheren Niederlage noch aus dem Weg. Nächster Termin ist nun voraussichtlich der 14. Januar, nur gut zwei Monate, bevor das Land am 29. März aus der EU ausscheidet. Die EU hat klar gemacht, dass sie den Text nicht mehr ändern will. Verliert May, wird ein unkontrollierter Austritt wahrscheinlicher. Das könnte extrem negative, ja chaotische Folgen für das Wirtschaftsleben und den Alltag der Briten haben. Dieses "Horrorszenario" hätten alle Abgeordneten im Hinterkopf, meint Fabian Zuleeg, und würden sich eventuell doch für das kleinere Übel entscheiden, den geordneten Exit. Der sei jedenfalls wahrscheinlicher als der oft beschworene Rücktritt vom Brexit. Letzterer werde nicht kommen, weil das Parlament damit jegliche Autorität und Legitimität gegenüber dem Volk verlieren würde.

Europawahl: Schock mit Ankündigung

Das zumindest aus Sicht der Bürger wichtigste politische Ereignis 2019 werden die Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai sein. Umfragen lassen eine Schwächung der Mitteparteien zugunsten von Populisten am rechten Rand erwarten. Die Folgen werden vermutlich weniger in der konkreten Brüsseler Politik zu spüren sein, wo die Rechten keine Blockademacht erlangen können. Allenfalls bei sehr umstrittenen Themen wie der Handelspolitik könnte es knapper werden für pro-europäische Kräfte. In den Mitgliedstaaten hingegen könnten die Ergebnisse politische Umwälzungen bewirken. Der Protest der Gelbwesten hat das große Ausmaß der Unzufriedenheit in Frankreich, aber auch in Belgien gezeigt. Mit Macron verlöre auch der europäische Gedanke an Kraft.

Interessant ist, ob sich das System der Spitzenkandidaten halten lässt. Das kann nur gelingen, wenn sich die großen Fraktionen im Europäischen Parlament nach der Wahl klar hinter einer Person für das Amt als Präsident der EU-Kommission versammeln. Dass dies der Deutsche Manfred Weber sein wird, den der absehbare Wahlsieger, die Europäische Volkspartei, nominiert hat, ist völlig offen. Viele Kollegen im Parlament lehnen den CSU-Politiker ab. Er habe "nicht den richtigen Hintergrund", sagt Zuleeg. Der Europa-Experte tippt auf Michel Barnier als neuen Kommissionschef. Durch seine Umsicht und Konsequenz bei den Brexit-Verhandlungen mit London habe sich der konservative Franzose viele Freunde in Europa gemacht.

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