Europa:Freiwillig und nach reiflicher Überlegung

In den Niederlanden ist Beihilfe zum Suizid gesetzlich verboten, dennoch hat das Land bereits seit Jahren die liberalste Sterbehilfe-Regelung auf dem gesamten Kontinent.

Von Thomas Kirchner, Isabel Pfaff, Stefan Ulrich

Das Bundesverfassungsgericht hat sich die Sterbehilfe-Regelungen in anderen Ländern sehr genau angeschaut, im Urteilstext hat jedes eine eigene Randnummer. Die Niederlande und Belgien liefern wichtige Beispiele, weil sie 2002 die liberalsten Regelungen in Europa einführten und aktive Sterbehilfe erlaubten - mit Gesetzen, die Rechte, Pflichten, Umfang, Rollenverteilung und Kontrolle bis in kleinste Details klären. Vorausgegangen war ein knapp 30 Jahre dauernder Kampf von Befürwortern der Sterbehilfe, die sich in den Niederlanden zur Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE) zusammenschlossen. Geführt wurde er vor allem über Selbstanzeigen von Ärzten.

Die Beihilfe zum Suizid ist in den Niederlanden verboten. Das Gesetz nennt aber Bedingungen, unter denen Mediziner straffrei bleiben. Die beteiligten Ärzte - idealerweise Hausärzte, die enge Beziehungen zur Familie haben - müssen sich davon überzeugen, dass die Patienten "freiwillig und nach reiflicher Überlegung" um den Tod gebeten haben, dass ihr Zustand aussichtslos und ihr Leiden unerträglich ist und dass es für die Lage der Patienten "keine andere annehmbare Lösung" gibt. Außerdem müssen Arzt oder Ärztin mindestens einen unabhängigen Kollegen hinzugezogen haben. Jede Sterbehilfeleistung muss gemeldet und von regionalen Prüfkommissionen untersucht werden.

Diese Kommissionen veröffentlichen jedes Jahr einen umfangreichen Bericht und beleuchten vor allem Fälle, bei denen die Sorgfaltspflicht nicht eingehalten wurde. Das kommt jährlich mehrmals vor, doch erst ein Mal kam es zu einer Anklage. Aus der Tatsache, dass die Zahl der Fälle von Jahr zu Jahr gestiegen ist, lesen manche eine "Normalisierung" der Sterbehilfe heraus, andere führen dies auf die gewachsene Vertrautheit mit der Regelung zurück. 2018 sank die Zahl erstmals, auf etwas mehr als 6000. Der Grund ist umstritten. Sterbehilfe-Befürworter klagen, dass Ärzte zunehmend "Angst vor strafrechtlicher Verfolgung" hätten. Etwa jeder zweite Arzt weigert sich, Sterbehilfe zu leisten.

Ein Problem sehen Kritiker darin, dass Patienten auch wegen psychischer Leiden um Sterbehilfe bitten dürfen. Krankheiten wie Depression beinhalten oft einen Todeswunsch, der bei einer Heilung der Krankheit wieder abklingen kann. Seit Langem wird in den Niederlanden erwogen, noch weiter zu gehen und Sterbehilfe auch jenen zu gewähren, die nicht tödlich erkrankt sind, aber das Gefühl haben, ihr Leben "zu Ende gelebt" zu haben. Dafür plädiert eine Mehrheit im Parlament, ob es aber dazu kommt, ist nicht sicher.

In der Schweiz ist lediglich Sterbehilfe aus "selbstsüchtigen Motiven" strafbar

In der Schweiz ist Sterbehilfe nur strafbar, wenn sie "aus selbstsüchtigen Beweggründen" geschieht. Anderenfalls bleibt die Beihilfe zum Suizid - also der assistierte Freitod, bei dem die sterbewillige Person das tödliche Medikament selbst einnimmt - straffrei. Deshalb hat sich die Alpenrepublik in den vergangenen Jahrzehnten zu einer wichtigen Destination für Sterbewillige entwickelt.

Abgesehen von diesem Artikel im Strafgesetzbuch gibt es in der Schweiz kein Gesetz, das die Sterbehilfe regelt. Es haben sich allerdings Konventionen etabliert, die sich über die Rechtsprechung und ärztliche Richtlinien herausgebildet haben. Demnach dürfen Ärzte nur dann ein Rezept für tödliche Medikamente ausstellen, wenn das Lebensende eines Patienten naht. Die sterbewillige Person muss urteilsfähig sein - vielen psychisch Kranken bleibt der Weg also verwehrt. Und der Suizidwunsch muss wohlerwogen, ohne äußeren Druck entstanden und dauerhaft sein.

In der Schweiz existiert etwa ein halbes Dutzend Sterbehilfe-Organisationen. Die größte und bekannteste ist der 1982 gegründete Verein Exit. Er hat mehr als 120 000 Mitglieder. Exit richtet sich nur an Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Von der zweiten großen Organisation, Dignitas, können sich auch Ausländer beim Sterben begleiten lassen. Die Zahl der assistierten Suizide pro Jahr steigt: von weniger als 200 um die Jahrtausendwende bis zu mehr als 1000 im Jahr 2017. Die Statistiken von Dignitas zeigen, dass immer mehr Ausländer zum Sterben in die Schweiz fahren.

Auch in Italien hat das Verfassungsgericht interveniert

In Italien wiederum gehört die Sterbehilfe zu den besonders emotional und erbittert diskutierten Themen. Das liegt am Antagonismus zwischen der im Land noch sehr einflussreichen katholischen Kirche einerseits und liberalen bis radikalliberalen Kräften andererseits. Lange Zeit behielten die Sterbehilfegegner die Oberhand. So stellt das italienische Strafgesetzbuch nicht nur aktive Sterbehilfe als Totschlag unter Strafe, sondern auch die Anstiftung und die Beihilfe zur Selbsttötung. Artikel 580 des Codice penale droht eine Gefängnisstrafe von fünf bis zwölf Jahren an.

Ähnlich wie gerade in Deutschland hat vergangenen September auch das Verfassungsgericht in Italien das Strafgesetz korrigiert, wenn auch nicht so weitgehend wie jetzt in der Bundesrepublik. Demnach ist Sterbehilfe in Form einer Beihilfe zum Suizid in Italien unter engen Voraussetzungen straffrei. Und zwar dann, wenn ein unheilbar Kranker, der unerträglich leidet, die freie Entscheidung getroffen hat, sich das Leben zu nehmen. Die Gesundheitsbehörden und ein Ethikkomitee sollen Missbräuche verhindern. Das Verfassungsgericht forderte zugleich das Parlament auf, die delikate Materie neu und genauer zu regeln. Doch das ist wegen der scharfen Konfrontation beim Thema Sterbehilfe schwierig. So warnte ein Kardinal nach dem Spruch der Verfassungsrichter, es drohe eine "Kultur des Todes".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: