Süddeutsche Zeitung

Europa:Der große Riss

Die Ministerpräsidenten von Polen und Ungarn sehen die nationale Souveränität als höchstes Gut. Der französische Präsident dagegen ruft nach einem "souveränen Europa". Wer das nicht will, darf die Union gern verlassen.

Kommentar von Daniel Brössler, Brüssel

Polens neuer Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat soeben seine erste offizielle Auslandsreise absolviert. Sie führte ihn nach Ungarn. Der Besuch galt Viktor Orbán, dem Gastgeber, aber die Botschaft richtete sich an ganz Europa. Es kann nur eine erste Reise geben, das macht diese Geste in der Sprache der politischen Symbolik so wertvoll. So musste den französischen Präsidenten Emmanuel Macron sein erster Weg natürlich nach Berlin führen, zu Angela Merkel. Wer eine aktuelle Landkarte der politischen Geografie Europas zeichnen wollte, könnte sich getrost auf die ersten Kalendereintragungen neuer Staatsoberhäupter und Regierungschefs stützen.

Macron und Merkel also auf der einen, Morawiecki und Orbán auf der anderen Seite? Das allein beschreibt nicht die vielfältigen Konflikte, welche die EU zu Beginn des Entscheidungsjahres 2018 durchziehen. Wohl aber deutet es hin auf den einen großen Riss, der ihr droht. Die Europäer schauen nach Berlin dieser Tage, wie die Deutschen ja auch. Dennoch gilt es, sich klarzumachen, dass das lange Warten auf die deutsche Regierungsbildung für die EU ein Problem ist, aber nicht das Problem.

Es geht auch nicht nur um die notwendige Reform des Euro-Raums und die lange überfällige Einigung im Migrationsstreit. Der Europäischen Union droht ihr Selbstverständnis abhandenzukommen - also das gemeinsame Verständnis von dem, was sie ist und sein soll. Die beispiellose Entscheidung der Europäischen Kommission, gegen Polen ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages anzustrengen, folgt dieser Erkenntnis. Den Entzug der Stimmrechte muss Polen kaum fürchten. Des ungarischen Vetos hat sich Morawiecki bei seinem Besuch in Budapest wohl versichert. Der Konflikt handelt aber nicht nur von Polen und der Abschaffung der unabhängigen Justiz dort. Es geht darum, ob die EU sich von ihren Grundprinzipien verabschiedet. Um es klar zu sagen: darum, ob sie sich abschafft.

Polens und Ungarns regierende Nationalisten haben in der Flüchtlingskrise die Zuwanderung zur europäischen Schicksalsfrage erklärt und damit auch von ihrer eigentlichen Absicht abgelenkt, Staat und Gesellschaft in einer Weise umzubauen, die einen demokratischen Machtwechsel erschweren, wenn nicht unmöglich machen soll. Dem vor allem dient Orbáns "illiberaler Staat". Mehr als ein Jahrzehnt nachdem sich die Länder Mittel- und Osteuropas begeistert der Europäischen Union angeschlossen haben, postulieren etliche ihrer führenden Politiker nun die nationale Souveränität als höchstes Gut - und ernten dafür Applaus keineswegs nur von der eigenen Bevölkerung. Orbán wird auch in Deutschland hofiert, von der CSU gerade erst wieder bei ihrer Klausurtagung. Auf der anderen Seite steht an erster Stelle der Franzose Macron, der mit seinem Ruf nach einem "souveränen Europa" Bürger in allen Teilen der Union inspiriert, aber auch irritiert. Zumindest darin treffen sich Macron und Orbán: Sie wollen Europa zu einer Entscheidung zwingen.

Frankreich geht es um Handlungsfreiheit

Wenn der Franzose von der Souveränität Europas spricht, so mag das zunächst nebulös klingen. Dort aber, wo er es ausbuchstabiert, wird klar, dass es um Handlungsfreiheit geht: wirtschaftlich, militärisch, politisch. Nach der reinen Lehre sind nur die Nationalstaaten souverän, also Herren ihres eigenen Schicksals. Zur Einsicht, dass sie vielfach nur gemeinsam ihre Interessen wirklich wahren können, sind die Europäer schon vor langer Zeit gelangt. Macrons Streben nach europäischer Souveränität aber folgt der Einsicht, dass das bisherige Maß an Gemeinsamkeit nicht ausreicht, um in einer globalisierten und vielfach feindseligen Welt handlungsfähig zu bleiben. Die Orbáns sehen diese Welt übrigens auch. Sie geben nur eine andere Antwort. In Tschechien hat die beliebte Popsängerin Lucie Bíla vielen ihrer Landsleute aus der Seele gesprochen, als sie ihr Heimatland als "Nest" bezeichnete, das es zu verteidigen gelte.

Eben dieser Sehnsucht sind ausgerechnet auch die Erben des Britischen Imperiums gefolgt. Wie in einem Laborversuch ist im Königreich nun zu betrachten, wohin die angebliche Unabhängigkeitsbewegung die Briten führt. In verzweifelten Verrenkungen versucht Premierministerin Theresa May den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Die bisherigen Verhandlungen offenbarten auf brutale Weise das Kräftegefälle zwischen Brüssel und London. Und wer den Briten die Rückkehr zum alten Stolz als Welthandelsmacht versprochen hat, muss erklären, wie sich das mit dem devoten Auftreten etwa gegenüber China verträgt.

Auch wenn Brexiteers, katalanische Separatisten und mitteleuropäische Nationalisten den Menschen etwas anderes vorgaukeln: der Weg zur Selbstbehauptung in der globalisierten Welt führt nicht über den Kleinstaat. Den besten Beleg liefert paradoxerweise das selbstbewusste Auftreten der Regierungen in Budapest und Warschau. Es fußt auf einer erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung, die ohne die Zugehörigkeit zur EU unmöglich gewesen wäre. Die Union hat mitgebaut am "Nest", und zusammen mit der Nato schützt sie es auch. So bewusst das vermutlich den meisten Bürgern ist, so sehr wünschen sie sich - nicht nur im Osten - die vermeintliche Geborgenheit eines überschaubaren politischen Raumes.

Das ist die Crux: Will die EU handlungsfähig bleiben, muss sie die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden sowie in der Verteidigung, in der Außenpolitik und vor allem im Umgang mit der Migration zu einem ganz anderen Niveau der Gemeinsamkeit finden. Im schlechtesten Fall aber produziert das Ängste, die den Zusammenhalt der EU gefährden. Nötig sind kluge Kompromisse, aber eben nicht irgendwo in der Mitte. Ein halber Rechtsstaat kann nicht Vollmitglied der EU sein. Alle Mitglieder genießen die Freiheit, die Union zu verlassen. Keinen Anspruch haben sie darauf, als "illiberale" Staaten die Union von innen auszuhöhlen.

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SZ vom 05.01.2018/jael
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