Europa:Das Elend in Sichtweite

Europa: Gerettet, aber nicht in Sicherheit: Seit 18 Tagen darf die Sea-Watch 3 mit Geflüchteten an Bord an keinem europäischen Hafen anlegen.

Gerettet, aber nicht in Sicherheit: Seit 18 Tagen darf die Sea-Watch 3 mit Geflüchteten an Bord an keinem europäischen Hafen anlegen.

(Foto: AFP)

Der rettende Hafen liegt so nah - was fehlt, ist eine Anlegeerlaubnis. Dutzende Geflüchtete müssen an Bord von zwei Schiffen ausharren, während Europa nach einer Lösung sucht.

Von Karoline Meta Beisel und Jasmin Siebert, Berlin/Brüssel

Am Dienstag ist Tag 18 der Sea-Watch 3 auf See. "Das ist ein schändlicher Rekord", sagt Alina Krobok, Sprecherin der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch, in einer Pressekonferenz in Berlin, die Situation sei "menschlich und politisch nicht zu verantworten". Seit dem 22. Dezember treibt das Rettungsschiff vor der Küste Maltas. Den Hafen in Sichtweite darf das Schiff mit 32 aus Seenot geretteten Geflüchteten und 20 Crewmitgliedern an Bord nicht anlaufen. Auch die Professor Albrecht Penck, ein Schiff der Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye, das seit 29. Dezember mit 17 Geflüchteten und 18 Crewmitgliedern an Bord im Mittelmeer unterwegs ist, erhält keine Anlegeerlaubnis in einem europäischen Hafen.

Auf den Schiffen, die nicht darauf ausgelegt sind, dauerhaft so viele Menschen zu beherbergen, werden Wasser und Nahrung inzwischen rationiert. Die Verzweiflung unter den 49 Geflüchteten, darunter fünf Kinder, nehme zu, hieß es in der Pressekonferenz, viele seien seekrank. Angesichts der angespannten Lage fordert die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten der EU zum Handeln auf: "Die Menschen an Bord der Schiffe müssen sicher und ohne weitere Verzögerungen an Land gehen", sagte ein Sprecher der Kommission am Dienstag.

Am Montag hatten sich neun Mitgliedstaaten zwar dazu bereit erklärt, die Menschen aufzunehmen, darunter Deutschland und Rumänien: Das Land hat gerade den Vorsitz im Europäischen Rat übernommen und will offenbar mit gutem Beispiel vorangehen. Malta fordert aber, dass nicht nur der Verbleib der Geflüchteten auf den Booten, sondern auch der von 249 weiteren Schiffbrüchigen geklärt wird, die die maltesische Küstenwache bereits an Land gebracht hat und für die es bis jetzt noch keine Lösung gibt.

Die Zahl der Überfahrten sinkt, doch die Zahl der Ertrunkenen ist im Verhältnis dazu gestiegen

Die Situation ist auch für Diplomaten frustrierend. Es stelle sich die Frage, "was europäische Solidarität für die anderen EU-Mitgliedstaaten bedeutet - insbesondere für diejenigen in Zentral- und Osteuropa, die nur wenig von Migrationsbewegungen betroffen sind", sagt ein EU-Diplomat. Auch Regierungssprecher Steffen Seibert forderte am Montag "eine dauerhafte, europäische, solidarische Lösung" und nicht "jeweils neue Verhandlungen mit jedem neuen Schiff". In Deutschland haben sich mehrere Bundesländer dazu bereit erklärt, Gerettete aufzunehmen. Das Aufenthaltsgesetz erlaubt Zusagen aus humanitären Gründen, wenn der Innenminister zustimmt. Horst Seehofer (CSU) sieht den Ball aber bei der EU-Kommission: "Ich finde, das ist eine saubere Abwägung zwischen Steuerung der Zuwanderung und Humanität", sagte er am Dienstag.

Ob erst Menschen sterben müssen, ehe die Politik etwas tue, fragt Erik Marquardt. Der Grünen-Politiker engagiert sich für die Organisation Sea-Eye, deren Rettungsschiff das erste ist, das unter deutscher Flagge fährt. Er geißelte die "schändliche Situation" und den "Wortbruch der Bundesregierung": Als das Schiff früher unter niederländischer Flagge fuhr, hieß es, der Flaggenstaat sei zuständig, nun wolle sich die deutsche Regierung erst mit anderen EU-Staaten abstimmen.

Derweil verschlechtern sich die Zustände auf den Schiffen weiter. Verbena Bothe war bis vor wenigen Tagen auf der Sea-Watch 3. In Berlin berichtet die Ärztin von den unhaltbaren Zuständen, die sie aus medizinischer Sicht als "Notfall" einstuft: Wegen Platzmangels müssten die Menschen auf dem kalten Deck schlafen. Weil die Wasseraufbereitungsanlage defekt sei, sei Waschen nur eingeschränkt möglich. Auch sei zu wenig vitaminreiche Nahrung an Bord. Bei einem Sturm vor wenigen Tagen seien viele Gerettete seekrank geworden und hätten sich wegen Erbrechen und Durchfall geweigert zu essen. Es war Bothes erster Einsatz, sie ist sichtlich bewegt. An Bord seien auch drei Kinder. Sie seien unterentwickelt und geschwächt. "Bei diesen Menschen kann Seekrankheit lebensgefährlich werden, besonders in Kombination mit Unterkühlung", warnt die Ärztin.

Die Vertreter von Sea-Watch und Sea-Eye fordern nachhaltige politische Lösungen - jedoch müssten die geretteten Menschen zuerst an Land gebracht werden. Kritiker argumentieren, dass jeder Gerettete andere ermutige, ebenfalls den Weg über das Meer zu wählen.

Tatsächlich hat die restriktive Politik der EU dazu geführt, dass die Zahl der Überfahrten und damit die der Geflüchteten, die Europa erreichen, zurückgegangen ist. Den Hilfsorganisationen zufolge ist die Zahl der Toten im Verhältnis zu den Überfahrten jedoch gestiegen. Wie viele es sind, kann niemand sagen: Momentan sind keine Retter mehr im Mittelmeer unterwegs.

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