Süddeutsche Zeitung

Europa:Auf lange Sicht fahren

In Helsinki beraten die EU-Innenminister nach dem Drama um die "Sea-Watch 3" über einen Notfallmechanismus für im Mittelmeer gerettete Migranten. Eine Entscheidung soll aber erst im September fallen.

Von Karoline Meta Beisel, Straßburg

Er komme sich langsam vor wie bei "Und täglich grüßt das Murmeltier", sagte der christdemokratische Abgeordnete Jeroen Lenaers am Mittwochnachmittag bei einer Debatte im Europaparlament: Immer wieder heiße es, man brauche einen neuen Weg, wie aus Seenot gerettete Migranten verteilt werden sollen. Und immer wieder ließen die Mitgliedstaaten ihren Worten keine Taten folgen.

Diesmal aber, das hatte sich Horst Seehofer vorgenommen, sollte der Durchbruch gelingen. Vor dem Treffen mit den anderen EU-Innenministern am Mittwochabend und Donnerstag in Helsinki hatte er seinen Kollegen einen Brief geschrieben: Das Thema Seenotrettung dränge und müsse auf die Tagesordnung gehoben werden. Eine Lösung konnte Seehofer nach dem Treffen in Finnland dann zwar doch noch nicht verkünden. Immerhin gibt es nun aber einen konkreten Termin, an dem sich das ändern soll. Gemeinsam mit Finnland, Frankreich, Malta und Italien habe man vereinbart, die Pläne in der ersten Septemberwoche bei einem Treffen auf Malta unter Dach und Fach zu bringen, sagte der CSU-Politiker. Er sei "ziemlich zuversichtlich", dass man das hinbekomme.

Bei einem Essen am Abend zuvor hatte Seehofer versucht, weitere Innenminister von seiner Idee für einen "kontrollierten Notfallmechanismus" zu überzeugen. Die "quälenden Prozesse", bei denen ein Schiff erst "acht oder 14 Tage vor der Küste liegt, und dann zunächst die Kranken, dann die Kinder und dann die schwangeren Frauen Stück für Stück ans Land" gelassen werden, müssten ein Ende haben, sagte Seehofer am Donnerstag. "Das ist ein Verfahren, das Europas unwürdig ist." Für Aufsehen hatte zuletzt der Fall der Sea-Watch 3 gesorgt: Die deutsche Kapitänin Carola Rackete hatte das Schiff Ende Juni nach tagelangem Warten unerlaubt in einen italienischen Hafen gesteuert, um gerettete Migranten an Land bringen zu können. Dort wird nun gegen sie ermittelt.

Rackete bleibt frei

Die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete hat nach ihrer Vernehmung bei der italienischen Staatsanwaltschaft die EU aufgerufen, eine Lösung bei der Verteilung von Migranten zu finden. "Es ist mir sehr wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es gar nicht um mich als Person gehen soll, sondern es sollte um die Sache gehen", sagte sie am Donnerstag in der sizilianischen Stadt Agrigent. Sie erwarte "von der Europäischen Kommission insbesondere, dass sie sich möglichst schnell dazu einigt, wie diese Bootsflüchtlinge in Europa aufgeteilt werden sollen", sagte sie. Die 31-Jährige aus Niedersachsen war Ende Juni mit Dutzenden Migranten an Bord ohne Erlaubnis der Regierung in Rom in italienische Gewässer und in den Hafen von Lampedusa gefahren. Dabei hatte sie ein Schiff der Finanzpolizei, die zu den Streitkräften gehört, gestreift. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zu illegaler Einwanderung und Widerstand gegen ein Kriegsschiff vor. Die Befragung in Agrigent dauerte rund vier Stunden. Eine schnelle Entscheidung, ob es zu einem Prozess kommt oder die Vorwürfe fallen gelassen werden, zeichnete sich aber nicht ab. Carola Rackete sei derzeit frei und durch keinerlei Arrestauflagen gebunden, sagte ihr Anwalt Alessandro Gamberini nach der Befragung. dpa, KNA

Aber das Dinner in Helsinki brachte offenbar kaum Fortschritte. Man habe zwar "mehrere Stunden sehr intensiv" über das Thema diskutiert. Trotzdem müsse man noch weitere Gespräche führen, vor allem mit Italien und Malta, die als Anrainerstaaten besonders beansprucht würden, sagte Seehofer. Die beiden Staaten weigern sich, Schiffe mit geretteten Migranten in ihre Häfen zu lassen, weil sie fürchten, mit der Verantwortung für die Geretteten allein gelassen zu werden. Jedes Mal dauert es darum einige Tage oder sogar Wochen, bis die Europäische Kommission Staaten findet, die bereit sind, Menschen aufzunehmen. Dann erst lassen Italien oder Malta die Boote anlegen. Der Mechanismus, den Außenminister Heiko Maas am Wochenende präsentiert hatte, und der von Frankreich mitgetragen wird, sollte für solche Fälle schon vorab klären, auf welche Länder wie viele Gerettete verteilt werden sollen. Seehofer betonte am Donnerstag aber auch, dass zugleich Schleuserringe zerschlagen und Anreize für die Überfahrt über das Meer vermieden werden sollten: "Das will niemand der beteiligten Staaten."

Der Mechanismus, um den es nun geht, ist als Zwischenlösung gedacht, bis sich die EU insgesamt auf eine neue Verteilung von Asylsuchenden geeinigt hat, also auch von solchen, die die EU auf dem Landweg erreichen. Auch in dieser Frage gibt es seit Langem keine Bewegung; die künftige Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat nun aber angekündigt, bei dem Thema schon bald nach ihrem Amtsantritt einen Neustart zu wagen.

Für die Interimslösung hatte Frankreichs Innenminister Christophe Castaner das Ziel ausgegeben, etwa 15 Staaten zum Mitmachen bewegen zu wollen. Dem luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn zufolge waren in Helsinki aber nicht einmal zehn Staaten bereit, sich dem Plan anzuschließen. "Das ist traurig", sagte Asselborn. Umstritten ist etwa die Frage, ob andere Länder nur Menschen übernehmen, die Aussicht auf Asyl haben, oder auch solche, denen am Ende ihres Verfahrens eine Abschiebung droht.

Italien und Malta haben bislang keine Zustimmung signalisiert. "Frankreich und Deutschland wollten, dass Italien einer der wenigen Häfen für die Anlandungen bleibe", schrieb Italiens Innenminister Matteo Salvini in der Nacht auf Twitter. Italien arbeite an einem anderen Plan. Maltas Minister Michael Farrugia sagte, das Konzept für die Anlandungen sei zwar ein guter Start, aber verbesserungsfähig.

Derzeit sind im Mittelmeer nur noch private Seenotretter unterwegs. Sollten die Innenminister bei dem Treffen in Malta tatsächlich eine Lösung finden, könnte sich aber auch das bald ändern: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte nach einem Treffen der EU-Außenminister am Montag, dass man dann auch darüber nachdenken könne, die Operation Sophia wieder mit Schiffen auszustatten. Hauptziel der Militärmission ist es, Menschenschmugglern das Handwerk zu legen. Daneben waren die Schiffe aber auch als staatliche Seenotretter unterwegs. Wegen des Streits um die Flüchtlinge hat die Operation derzeit allerdings kein einziges Schiff im Einsatz.

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SZ vom 19.07.2019
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