Europa:Anlauf zu neuem Wettrüsten

Seit 30 Jahren bewahrt das INF-Abkommen Europa vor der Stationierung von Mittelstreckenwaffen. Jetzt wollen die USA aussteigen - sie begründen das mit dem russischen Raketenprogramm. Russland kündigt ebenfalls den Rückzug aus dem Vertrag an.

Von Paul-Anton Krüger

Mike Pompeo

US-Außenminister Mike Pompeo erklärt am Freitag in Washington, seine Regierung fühle sich nicht mehr an den INF-Vertrag gebunden.

(Foto: Andrew Harnik/AP)

Eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen aus dem Kalten Krieg steht vor dem Ende: Die USA und auch Russland ziehen sich aus dem 1987 geschlossenen INF-Vertrag zurück. US-Außenminister Mike Pompeo hatte den Schritt am Freitag in Washington angekündigt, weil Moskau gegen den Vertrag verstoße und damit Sicherheitsinteressen der USA gefährde. Dies ist laut dem Abkommen Voraussetzung für eine Kündigung. "Wir können nicht länger durch diesen Vertrag beschränkt sein, während ihn Russland schamlos verletzt", sagte Pompeo. Das Weiße Haus erklärte, die USA fühlten sich weiter der Rüstungskontrolle verpflichtet, Vereinbarungen müssten aber überprüfbar sein und eingehalten werden.

Am Samstag kündigte auch Russland an, aus dem INF-Vertrag auszusteigen. "Unsere amerikanischen Partner haben angekündigt, ihre Teilnahme an dem Abkommen auszusetzen und wir setzen unsere Teilnahme auch aus", so Putin in einer Mitteilung des Kremls.

Die USA hatten Russland zuvor aufgerufen, wieder zur Vertragstreue zurückzukehren. Dem hatten sich die anderen Nato-Staaten in einer Erklärung angeschlossen, mit der sie die Entscheidung der USA unterstützen. Die USA werfen Russland schon seit 2014 vor, mit dem neu entwickelten Marschflugkörper 9M729, in der Nato als SSC-8 bekannt, den Vertrag zu verletzen. Die USA verlangen, dass Russland die umstrittenen Flugkörper und alle damit in Verbindung stehenden Systeme komplett zerstört. Präsident Donald Trump sagte, Ziel sei nun "ein neuer Vertrag", der möglicherweise andere Staaten als nur die USA und Russland einschließen könnte.

Kreml-Sprecher Dimitrij Peskow erklärte, es sei anzunehmen, dass die USA ihren Austritt schon vor langer Zeit beschlossen hätten. Das zeige sich daran, dass Washington es abgelehnt habe, substanzielle Verhandlungen mit der russischen Seite zu führen. Die USA halten dem entgegen, Russland habe keine glaubwürdigen Angebote unterbreitet. Wladimir Putin hatte angekündigt, Russland werde unter dem INF verbotene Waffen entwickeln, sollten die USA aussteigen. Auch würden mögliche Stationierungsorte amerikanischer Raketen zum Ziel für russische Raketen.

Der INF-Vertrag verbietet nukleare Mittelstreckenwaffen und gilt als ein Grundpfeiler der Sicherheitsarchitektur in Europa. Er umfasst Raketen und Marschflugkörper mit 550 bis 5500 Kilometern Reichweite. Diese gelten als besonders gefährlich, weil sie in wenigen Minuten ihr Ziel erreichen und nicht erkennbar ist, ob sie Atomwaffen tragen oder konventionelle Bomben. Daher hatten US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow vereinbart, auf diese Klasse von Trägersystemen zu verzichten. Sie hatten die Gefahr eines Atomkriegs in Europa entschärft.

Mit dem wahrscheinlichen Ende des Vertrags wächst nun die Sorge vor einem neuen atomaren Wettrüsten in Europa. Polens Außenminister Jacek Czaputowicz sagte dem Spiegel, es "liegt in unserem europäischen Interesse, dass amerikanische Truppen und Atomraketen auf dem Kontinent stationiert sind". Die Bundesregierung wird laut ihrem Sprecher Steffen Seibert gemeinsam mit den Nato-Partnern beraten, ob und wenn ja welche Maßnahmen notwendig seien, "um die Abschreckung, die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses weiter zu gewährleisten".

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte klar, dass es Russland sei, das den INF-Vertrag breche. Man werde aber alles daransetzen, die sechs Monate nach der Kündigung zu nutzen, um weitere Gespräche zu führen. Außenminister Heiko Maas (SPD) äußerte sich ähnlich, lehnte es aber ab, in eine Diskussion über atomare Aufrüstung einzusteigen. "Europa ist nicht mehr geteilt wie in Zeiten des Eisernen Vorhangs und deshalb sind alle Antworten aus dieser Zeit völlig ungeeignet", sagte er. "Der Kalte Krieg ist vorbei. Gott sei Dank."

In den 1980er Jahren hatte eine Nachrüstungsdebatte die Bundesrepublik tief gespalten. Hunderttausende protestierten gegen die Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen, mit der die Nato auf die Aufstellung der SS-20-Raketen durch die Sowjetunion reagierte. Die Initiative dafür war damals von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ausgegangen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat mehrmals gesagt, es gebe keine Pläne zur Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa.

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