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Europa:Am Anfang steht die Balance

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Pünktlich auf die Minute betritt Ursula von der Leyen den Pressesaal der Europäischen Kommission. Dass sich die designierte Präsidentin der EU-Kommission bei der Vorstellung ihrer Mannschaft gut gelaunt und bestens vorbereitet präsentiert, überrascht nicht. Sie kündigt an, dass ihre Kommission "flexibel, modern und agil" auftreten solle, und will Bürokratie abbauen. Eine erste Überraschung ist die hohe Zahl der Vizepräsidenten: Während Vorgänger Jean-Claude Juncker mit sechs Stellvertretern auskommt, gibt sie acht Kommissaren den begehrten Titel.

Dass die CDU-Politikerin dem Niederländer Frans Timmermans und der Dänin Margrethe Vestager herausgehobene Posten als Exekutiv-Vizepräsidenten geben würde, hatten die Staats- und Regierungschefs vorgegeben. Der Sozialdemokrat ist künftig zuständig für den "europäischen Grünen Deal" und das Riesenthema Klimawandel. Der Niederländer soll in den ersten hundert Tagen einen Plan vorlegen, wie die EU bis 2050 klimaneutral werden kann - und ihm arbeiten etwa die neuen Kommissare für Gesundheit, Energie, Transport und Landwirtschaft zu. Zudem untersteht ihm eine Generaldirektion.

Dieser Schwerpunkt war ebenso erwartet worden wie das weitreichende Portfolio für die Dänin Vestager: Sie soll dafür sorgen, dass "Europa für das digitale Zeitalter gerüstet" ist. Von der Leyen schwärmt von der 51-Jährigen, die als Wettbewerbskommissarin Tech-Konzerne wie Google, Facebook oder Amazon zu hohen Strafen verurteilt hat. Dann enthüllt sie den Kracher: Vestager kümmert sich weiter um Wettbewerbspolitik. Üblicherweise geben Kommissare ihr Portfolio nach fünf Jahren ab, doch Vestagers zweite Amtszeit sendet ein starkes Signal, dass die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen selbstbewusst nach außen auftreten will - gegenüber einem "immer selbstbewussteren China" und den Freunden in den USA, wie sie sagt. Während Juncker mit dem Versprechen einer "politischen Kommission" antrat, so spricht die Deutsche bewusst von einer "geopolitischen Kommission".

Die Dänin Margrethe Verstager bleibt im Ressort Wettbewerb - das hatte wirklich keiner erwartet

Dritter Exekutiv-Vize ist der Lette Valdis Dombrovskis. Der Christdemokrat behält wie unter Juncker seinen Aufgabenbereich Finanzmärkte, Euro und Soziales. Er soll die Arbeit des neuen Wirtschafts- und Währungskommissars Paolo Gentiloni koordinieren. Der frühere italienische Premier ist für den Stabilitäts- und Wachstumspakt zuständig, also für die Regeln, die verhindern sollen, dass Euro-Staaten zu viele Schulden aufnehmen. Dass sich darum demnächst ein Italiener kümmert, ist pikant; schließlich stritten Brüssel und Rom lange über das Staatsdefizit. Für den Europaabgeordneten Markus Ferber, Wirtschaftssprecher der Europäischen Volkspartei, ist es "alles andere als eine ideale Konstellation, dass nun ein Italiener den Problemstaat Italien überwachen soll".

Einen wichtigen Posten erhielt auch die frühere französische Verteidigungsministerin Sylvie Goulard: Sie soll als Binnenmarktkommissarin die neue Industriepolitik mitentwickeln, die von der Leyen versprochen hat und die Deutschland und Frankreich vehement fordern. Die Liberale ist zudem für eine neue Abteilung der EU-Kommission zuständig, die sich der Rüstungsindustrie und Raumfahrt widmet. Die Gründung dieser Generaldirektion gilt als Hinweis, dass von der Leyen mehr Zusammenarbeit bei der Verteidigung ermöglichen will - ein Wunsch der Franzosen.

Regionale Balance beim Personal

Der Österreicher Johannes Hahn wird Haushaltskommissar. Die EU-Staaten müssen sich bald auf einen neuen Finanzrahmen für die Jahre von 2021 bis 2027 einigen, und wegen des Austritts der Briten fällt ein wichtiger Beitragszahler weg. Der bisherige Agrarkommissar Phil Hogan erhält das Handelsportfolio. Auf diesem Posten muss sich der Ire bemühen, den Streit mit den USA nicht eskalieren zu lassen. Zudem will die britische Regierung nach dem Austritt einen ehrgeizigen Handelsvertrag mit der EU abschließen, um dauerhaft zu verhindern, dass Zölle und andere Handelshemmnisse Geschäfte über den Ärmelkanal erschweren. Dass Hogan diese Gespräche führen wird, dürfte vielen in London nicht gefallen, denn dieser kritisiert die Brexit-Politik der Briten gerne und harsch. Von der Leyen lobte bei ihrer Vorstellung der Kommissare, Hogan sei "als harter und fairer Verhandler bekannt".

Bei ihrem Personaltableau hatte sie vor allem auf die regionale Balance zu achten, denn im Juli waren die Top-Jobs an Deutschland, Frankreich, Belgien und Spanien (Josep Borrell ist als EU-Außenbeauftragter vorgesehen) gegangen. Also erhalten mit der Kroatin Dubravka Šuica (zuständig für "Demokratie und Demografie"), dem Slowaken Maroš Šefčovič und Věra Jourová drei Politiker aus Ost- und Mitteleuropa den Titel "Vizepräsident".

Die Tschechin wird mit dem Belgier Didier Reynders, dem designierten Justizkommissar, das brisante Thema Wahrung der Rechtsstaatlichkeit betreuen. Durch die Berufung Jourovás, der die Unabhängigkeit der Gerichte extrem wichtig ist, möchte von der Leyen offenbar versuchen, die Debatte zu entemotionalisieren. Ein einheitlicher Rechtsstaats-TÜV, dem sich künftig alle EU-Mitgliedstaaten jedes Jahr unterziehen müssen, soll der Kritik aus Polen und Ungarn entgegentreten, die eingeleiteten Verfahren seien diskriminierend.

Alle Bewerber müssen sich im Oktober Anhörungen im Europaparlament stellen. Bedenken gibt es gegen Laszlo Trócsányi, den früheren Justizminister von Ungarns Premier Viktor Orbán: Er soll sich um Nachbarschaftspolitik und Erweiterung kümmern, also um die Beziehungen zu Nordmazedonien, Serbien oder der Ukraine. Experten und Sozialdemokraten teilen die Kritik des grünen EU-Abgeordneten Sven Giegold: "Als Verantwortlicher für eine demokratiefeindliche Justizreform kann Trócsányi schlecht auf Rechtsstaatlichkeit bei den Beitrittskandidaten pochen." Vizepräsident wird auch der Grieche Margaritis Schinas, dessen Job mit "Schützen, was Europa ausmacht" umschrieben ist.

Dass sich dahinter das seit Jahren ungelöste Streitthema Migration verbirgt, sorgte mancherorts für Kritik: Es könne so interpretiert werden, als stellten Migranten und Flüchtlinge eine Bedrohung dar. Schinas könnte seiner neuen Chefin auch Ratschläge geben für eine weitere Personalie, die noch in dieser Woche verkündet werden soll: Ursula von der Leyen muss noch einen Chefsprecher oder eine Chefsprecherin benennen. Es geht um die Nachfolge von Schinas, der fast fünf Jahre das Kommunikationsteam von Juncker leitete.

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SZ vom 11.09.2019
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