Euro-Krise und Griechenland-Rettung:Wie die EU die Jugend zurückgewinnt

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Sie sind hochgebildet, arbeitslos und ihr Zorn richtet sich gegen die Europäische Union: Junge Europäer fühlen sich verkauft, die EU erscheint ihnen als gnadenlose und bürgerferne Exekutorin einer ungerechten Sparpolitik. Attraktiv ist das Projekt Europa nur noch außerhalb seiner Grenzen. Es braucht dringend neue politische Energien für die Alte Welt.

Ein Gastbeitrag von Claus Leggewie

Claus Leggewie, 61, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Herausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Berlin.

"Das nennen sie Demokratie": Proteste in Madrid - organisiert von einer Gruppe, die sich "Jugend ohne Zukunft nennt". (Foto: AFP)

Die Idee Europa und die Europäische Union stehen vor ihrer schwersten Bewährungsprobe seit 1945 - so lautet der Tenor vieler Kommentare zur Euro-Krise und zur unpopulären Rettung Griechenlands. Vertreter meiner Generation und derjenigen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt und erlitten hat, rufen dagegen warnend die Erfahrung der europäischen Selbstzerstörung und Teilung im 20. Jahrhundert in Erinnerung. Den Jüngeren, für die das kein existenzielles Gründungsmotiv gewesen ist, die Europa vielmehr als Selbstverständlichkeit erleben, rufen sie zu, sich mehr für die europäische Einheit einzusetzen. Sonst sei es bald vorbei mit der Freizügigkeit beim Reisen, Studieren und Arbeiten.

In der Tat sind diese Errungenschaften schwer bedroht, schmerzlich vermisst man eine Anerkennung Europas auf öffentlichen Straßen und Plätzen. Stattdessen mehren sich die Aversionen gegen das "sanfte Monster" (Hans Magnus Enzensberger) namens EU, gewinnen speziell unter jungen Männern rechtspopulistische Europa-Skeptiker und -Gegner an Boden, sind folglich Wahlsiege eines Heinz-Christian Strache in Österreich oder einer Marine Le Pen in Frankreich möglich. Damit entstehen noch stärkere Selbstblockaden des europäischen Prozesses als durch die "wahren Finnen" und die Euro-Skeptiker in Bratislava.

Aber es gibt Orte, an denen die EU weiterhin höchst attraktiv ist. Nur liegen sie außerhalb ihrer Grenzen: Eine Sehnsucht, ein Wunsch ist sie für die geschundene Bürgeropposition in der Ukraine und Weißrussland ebenso wie bei der nordafrikanischen Demokratiebewegung. Aber wo immer sich im Inneren der Union Empörung artikuliert, vom Athener Syntagma-Platz bis zur Puerta del Sol in Madrid, äußern die Demonstranten ein starkes Misstrauen gegenüber der EU, die dort als gnadenlose und bürgerferne Exekutorin einer ungerechten, gerade die Zukunftsperspektiven der Jüngeren verdunkelnden Sparpolitik erscheint.

Junge Kosmopoliten - aber keine Europäer

"Gerettet" werden sollen ja in der Tat nur deutsche und französische Banken, nicht die Arbeitsplätze und Bildungschancen der griechischen oder irischen Jugend. Und es mag bei Verschärfung der Schuldenkrise durchaus sein, dass die Europäische Union auch im reicheren Norden von den Jüngeren als existenzielle Bedrohung erfahren wird - niemand aus den politischen Eliten erklärt ja, welche Konsequenzen das aktuelle Krisenmanagement für die Altersgenossen der "Empörten" hierzulande haben wird. Historische Reminiszenzen helfen da ebenso wenig wie moralische Appelle. Europa muss sich heute bewähren.

Es fehlt ein konkretes Projekt, das jüngere Europäer wieder oder erstmals für die "Vereinigten Staaten von Europa" motiviert und mobilisiert. In Meinungsumfragen unter jungen Menschen deklarieren sie sich zu guten Teilen als Kosmopoliten und Anwälte globaler Gerechtigkeit, im Übrigen als Anhänger von Ideen ökologischer Nachhaltigkeit und des konkreten bürgerschaftlichen Engagements vor Ort. Für all das setzen sie sich oft sehr intensiv ein. Für Europa als Zukunftsprojekt ist da relativ wenig eigenständiger Raum.

Bei den Protestbewegungen in ganz Europa und um das Mittelmeer herum geht es vor allem um Respekt und Würde. Es wächst die Furcht, gerade auch unter den gebildeten Jungen, als verratene Generation in die Geschichte einzugehen. Was bleibt einer jungen Ingenieurin aus Barcelona, als sich im Norden einen Arbeitsplatz zu suchen? Welche Chancen haben Absolventen in Thessaloniki außerhalb des schrumpfenden öffentlichen Dienstes und des unproduktiven Tourismussektors?

Ein Industrieprojekt für den Frieden

Es mag sein, dass auch das nur die Kopfgeburt eines älteren Pro-Europäers ist. Aber sollte man jetzt nicht dringend die drei Dinge zusammenführen, die europäische Jugendliche und junge Erwachsene am meisten interessieren: erstens eine Grundsympathie für den demokratischen Aufbruch im gesamten Mittelmeerraum, zweitens ein starkes Plädoyer für Umwelt- und Klimaschutz und drittens das frische Interesse an den Potentialen einer Energiewende? Saubere und kostengünstige Energie ist zum Beispiel eine der zentralen Forderungen der Bewegung "15M", die sich am 15. Mai dieses Jahres in Madrid zusammentat.

Kann ein europapolitisches Projekt, das neue Energien für die Alte Welt bringt, das europapolitische Vakuum füllen? Sicher nicht, wenn die Energiewende nur als ein vornehmlich wirtschaftliches und ingenieurtechnisches Groß-Projekt wirkt. Bisher sind Versuche einer Energiekooperation über das Mittelmeer hinweg bloß Unternehmen großer Energiekonzerne, wie es beim Desertec-Projekt noch weitgehend der Fall ist.

Politische Energie aber bringen solche Großvorhaben nur dann, wenn sie auch ein höheres Ziel haben: Frieden, gute Nachbarschaft und Kooperation Europas mit den neuen arabischen Staaten in Nordafrika. So ein Ziel hatten, für den Kern Europas, einst die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und dann Euratom in den 1950er Jahren.

Über ihre wirtschaftliche Bedeutung hinaus waren sie von Beginn an Teil ebenjenes friedenspolitischen Europa-Projekts, das die Älteren beschwören: einer Wirtschaftsgemeinschaft, die der Verhinderung von Kriegen, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und dem sozialen Aufstieg vieler Menschen gedient hat. Die Gemeinschaft für Stahl und Kohle kann man natürlich nicht wiederholen, die Euratom erst recht nicht. Denkbar ist aber eine europäische Industrie- und Sozialpolitik auf der Basis erneuerbarer Energien, die im Inneren wie in den Anrainer-Staaten die unternehmerischen Energien mobilisiert.

Eine Energiepartnerschaft zwischen Europäern und Arabern auf Augenhöhe, die der Demokratie aufhilft und Europa neue Ziele gibt, das ist - als erster Schritt einer neuen Nachbarschaft - sicher eine Utopie. Die dazu passende Dystopie klingt vielen realistischer: Islamisten übernehmen die Macht, stellen sich gegen Europa, das an seiner Krise zerfällt.

Dagegen muss die europäische Außenpolitik eine Mittelmeerunion neuen Typs stellen und die Utopie konkret werden lassen. "Mare nostrum" haben die alten Römer, in imperialer Perspektive, das Mittelmeer genannt. Wir sollten die europäische Peripherie, deren Sonnenstrände und Südfrüchte wir so gern genießen, jetzt endlich als unser Meer anerkennen. Dann werden Klimaschutz und Energiewende Friedenspolitik.

© SZ vom 25.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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