Süddeutsche Zeitung

Rechtsstaatlichkeit in Polen:Richter auf Abruf

Der Europäische Gerichtshof stellt ein weiteres polnisches Sondergericht infrage - und damit Dutzende politisch kontrolliert ernannte Richter.

Von Florian Hassel, Belgrad

Im Konflikt um den Abbau des Rechtsstaats in Polen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) noch unabhängige Richter in Polen ermächtigt, die Rechtswidrigkeit einer politisch kontrollierten Aufsichtskammer am Obersten Gericht festzustellen und bisherige Entscheidungen zu missachten. Nach dem Urteil des EuGH steht allein am Obersten Gericht, Polens letzter Instanz in allen Zivil-, Straf- und Wirtschaftsverfahren, der Richterstatus Dutzender dort installierter Parteigänger der Regierung infrage. Vorherige EuGH-Urteile erklärten bereits eine Kammer zur Disziplinierung von Richtern und Staatsanwälten sowie Gesetze zur Kontrolle der Justiz durch die polnische Regierung für EU-rechtswidrig.

2018 wandelte die von der nationalpopulistischen PiS geführte Regierung den zuvor unabhängigen Landesjustizrat (KRS), der in Polen Richter aussucht, in ein politisch kontrolliertes Organ um. Der nun abhängige KRS hat seitdem Hunderte sogenannter "Neo-Richter" ausgesucht, knapp 50 von ihnen für das Oberste Gericht. Dort schuf die PiS zudem eine neue Disziplinarkammer, die jeden Richter, Staatsanwalt und andere Juristen entlassen kann, und eine neue "Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten". Diese Aufsichtskammer prüft unter anderem die Gültigkeit von Wahlen und kann selbst rechtskräftige Urteile aufheben.

Bereits im April 2020 erklärte der EuGH, die Disziplinarkammer sei kein ordnungsgemäßes Gericht und ordnete ihre Auflösung an. Das Urteil vom Mittwoch ermöglicht noch unabhängigen Richtern der Zivilkammer des Obersten Gerichts, auch der Aufsichtskammer den Rang eines ordentlichen Gerichts abzusprechen: Der EuGH stellte fest, der an die Aufsichtskammer berufene Richter Alexander Stępkowski (zuvor unter der PiS Vize-Außenminister) sei "unter offensichtlicher Missachtung der Grundregeln" ernannt worden. Eine Entscheidung, die Stępkowski als Einzelrichter gefällt habe, sei wegen "berechtigter Zweifel" an seiner Unabhängigkeit "nicht durch ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht" ergangen. Seine Entscheidungen könnten deshalb für ungültig erklärt werden.

Da auch die anderen Richter der Aufsichtskammer und Dutzende weitere Richter am Obersten Gericht unter ähnlicher Missachtung der Grundregeln ernannt wurden, steht auch ihr Status infrage. Der EuGH ermächtigte neben der noch unabhängigen Zivilkammer des Obersten Gerichts auch das gleichfalls noch unabhängige Oberste Verwaltungsgericht Polens (NSA), zu "Neo-Richtern" zu urteilen. Bereits am 5. Mai und 21. September hatte das NSA grundlegende Auswahlentscheidungen des politisch kontrollierten Landesjustizrats zu Neo-Richtern am Obersten Gericht für ungültig erklärt.

Negativlisten über nicht genehme Juristen

Für Polens Regierung ist indes die Kontrolle über Richter, Staatsanwälte und andere Juristen Kern ihrer "Justizreform". Kürzlich bekannt gewordene E-Mails des Kanzleichefs von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki legen nahe, dass bei der Richterauswahl am Obersten Gericht Negativlisten über nicht-genehme Juristen geführt wurden - offenbar unter Beteiligung der dazu nicht befugten, doch der PiS nahestehenden Verfassungsgerichtspräsidentin.

Die vom EuGH für rechtswidrig erkannte Disziplinarkammer arbeitet bis heute weiter, auch rechtswidrige Gesetze wurden nicht aufgehoben. Der EuGH entscheidet deshalb auf Antrag der EU-Kommission bald über Geldbußen gegen Polen. Das EuGH-Urteil vom Mittwoch nannte Ministerpräsident Morawiecki "einen Versuch der weitgehenden Destabilisierung" des polnischen Rechts- und Gesellschaftssystems. Das politisch kontrollierte, vom Europäischen Parlament bereits als "illegitim" erklärte Verfassungsgericht soll auf Antrag Morawieckis urteilen, Passagen der EU-Verträge zur Rechtsstaatspflicht und zu Kompetenzen des EuGH seien verfassungswidrig.

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