Werkstatt Demokratie:Visionen für Europas Zukunft

Werkstatt Demokratie: undefined
(Foto: dpa; Illustration Jessy Asmus)

Europa und die Europäische Union sind Dauerbaustellen. Wie ihre Zukunft aussehen soll, darüber gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen. Wir stellen die wichtigsten Ideen vor.

Von Thomas Kirchner

Europa ist etwas Besonderes. Es ist unfertig, im Stadium des Entstehens, eine Dauerbaustelle, ein "work in progress". Niemand weiß, wie es einmal aussehen wird, ob es überhaupt ein Ende, ein fertiges Gebäude, geben wird und geben soll. Die Architekten dieses Europas waren und sind vor allem Politiker. Die Bürger wurden nur selten, nur in manchen Ländern und auch nur zu einzelnen Teilen der europäischen Einigung befragt - die heute in Form der Europäischen Union existiert.

Die Europawahlen bieten eine Gelegenheit, dieses Bauwerk zu beurteilen: Wo fehlt etwas, welcher Pfeiler sollte verstärkt, wo sollte aus-, wo gar rückgebaut werden? Ist die EU zu groß, zu klein, zu undemokratisch, zu bürokratisch? Oder sollte alles bleiben, wie es ist? Nicht dass diese Fragen auf irgendeinem Wahlzettel stünden. Aber die Parteien und manche Politiker geben zu verstehen, wie sie darüber denken: ob sie mehr direkte Demokratie wollen, eine europäische Armee, eine Binnenmarkt-EU, eine EU ohne Euro, oder, wie der SPD-Politiker Martin Schulz, die Vereinigten Staaten von Europa.

Dieser Artikel gehört zur Werkstatt Demokratie, ein Projekt der SZ und der Nemetschek Stiftung. Alle Beiträge der Themenwoche "Heimat Europa" finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Euro- und Migrationskrise waren auch in Brüssel selbst ein Anlass, die Grundsatzfrage zu stellen: In welcher Union wollen wir leben? EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ließ 2017 ein Weißbuch schreiben, das Szenarien vorstellt, wie sich die EU weiterentwickeln könnte.

Sie sollten - zusammen mit Tausenden "Bürgerdialogen" und einer europaweiten Online-Befragung - eine Debatte anstoßen, die bis zu dem EU-Zukunfts-Gipfel in Sibiu, Rumänien, am 9. Mai reichen sollte. Schwung bekam diese Debatte, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine eigene, ehrgeizige Vision von einem "Europa, das schützt" präsentierte.

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Modelle für Europas Zukunft. Einige fordern "mehr Europa", das heißt zusätzliche Macht für die Brüsseler Institutionen, andere wollen im Kern den Status quo erhalten, wieder andere plädieren für ein Europa, in dem die nationalen Regierungen mehr Einfluss haben. Wir stellen einige Ideen vor:

Junckers Weißbuch

Werkstatt Demokratie: Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, im März 2019.

Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, im März 2019.

(Foto: AFP)

Eine Diskussion über die Zukunft der EU sollte mit einem Blick auf das Weißbuch der Europäischen Kommission beginnen, das deren Präsident Jean-Claude Juncker 2017 vorgestellt hat. Es enthält fünf Szenarien, die sich zum Teil überlappen und einander nicht unbedingt ausschließen.

Eine Präferenz nennt die Kommission absichtlich nicht, vermutlich läge sie bei Szenario vier oder fünf. Was aus naheliegendem Grund fehlt, ist die Option, die EU ganz aufzulösen.

  • Szenario eins: Weiter wie bisher. Es geht Schritt für Schritt in allen Politikbereichen nach vorn: Euro, Migration, Sicherheit, Verteidigung. Aber es wäre, wie bisher, ein mühsamer Fortschritt. Die EU-Kommission würde bei ihrem Plan bleiben, möglichst nur so viel zu regulieren, wie unbedingt nötig ist. Die Einheit der 27 würde bestehen bleiben, könnte aber "bei größeren Streitfragen" aufs Spiel gesetzt werden.
  • Szenario zwei: Nur ein Binnenmarkt. Dies ist das Minimal-Szenario, nah an den Wünschen vieler Euro-Skeptiker. Die EU würde sich auf den Binnenmarkt konzentrieren, der zu ihrem eigentlichen Daseinsgrund würde. In vielen Politikbereichen wäre sie nicht in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen. Das gilt etwa für Themen wie Klimaschutz, Steuerhinterziehung oder Handelsfragen. Ein großer Nachteil: Auf diese Weise würde die EU international an Bedeutung verlieren.
  • Szenario drei: Wenige machen mehr. Staaten, die im Rahmen der EU enger zusammenarbeiten wollen als bisher, sollen Koalitionen der Willigen bilden. Beim Euro oder im Schengen-Rahmen geschieht dies schon und könnte auf die Bereiche Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern und soziale Angelegenheiten ausgeweitet werden. Denkbar wäre, dass man gemeinsame Polizeitruppen aufstellt, die grenzüberschreitend ermitteln würden; dass eine Gruppe von Staaten das Arbeitsrecht vollständig harmonisiert; dass ein echter Austausch von Sicherheitsdaten in Gang kommt. Andere Staaten könnten auf Wunsch nachziehen. Dies wäre das "Europa der mehreren Geschwindigkeiten", das Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Zeitlang propagiert hat. Juncker vermeidet diesen Begriff. Und er legt Wert darauf, dass die Richtung für alle dieselbe bleiben muss.
  • Szenario vier: Weniger machen, aber effizienter. Statt dass einzelne Staatengruppen vorangehen, entscheidet sich die EU als Ganzes dafür, sich auf einige Politikbereiche besonders zu konzentrieren. In diesen Bereichen erhielte die Union dann mehr "Instrumente". Als Beispiel nennt Juncker den Auto-Abgasskandal, bei dem von der EU ein energischeres Einschreiten erwartet worden sei, Brüssel aber die entsprechenden Kompetenzen gefehlt hätten. In der Migrationspolitik könnte dies bedeuten, dass der neue Grenz- und Küstenwachschutz die Überwachung aller nationalen Grenzen übernimmt und künftig alle individuellen Asylentscheidungen nicht mehr national, sondern auf der europäischen Ebene getroffen würden. Gleichzeitig würde sich die EU aus anderen Gebieten weitestgehend zurückziehen: etwa der Regionalförderung, Gesundheitsfragen, Sozialem und Beschäftigung oder der Beihilfen-Kontrolle.
  • Szenario fünf: Sehr viel mehr gemeinsam machen. Das ist die ambitionierteste Variante. Die EU würde sich verständigen auf alles, was für einen funktionierenden Euro nötig wäre - zum Beispiel eine viel umfassendere Koordinierung der nationalen Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik. Die EU erhielte mehr Geld, um Disparitäten in der wirtschaftlichen Entwicklung auszugleichen. Es würde insgesamt leichter, Entscheidungen zu treffen. Allerdings könnten damit jene Teile der Gesellschaft verärgert werden, die der EU schon jetzt die demokratische Legitimation absprechen.

Macron und die "europäische Souveränität"

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede zur EU an der Sorbonne in Paris 2017.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede zur EU an der Sorbonne in Paris 2017.

(Foto: AFP)

In einer Rede an der Sorbonne stellte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 26. September 2017 seine europäische Vision vor.

Sein Ziel: die Neubegründung eines "souveränen" Europas, als Antwort auf die Herausforderungen durch die Globalisierung, den Brexit, den Populismus und die Konkurrenz in Washington, Moskau oder Peking. Sein Vorschlag enthält Elemente der Weißbuch-Szenarien Nummer fünf, aber auch aus Nummer drei, denn implizit tritt Macron für ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" ein.

Diese "europäische Souveränität" möchte Macron auf sechs Pfeilern errichten: einer starken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einer effektiven und zugleich humanen Migrationspolitik, einer auf Afrika fokussierten partnerschaftlichen Entwicklungspolitik, einer auf Nachhaltigkeit abzielenden Vorreiterrolle in der Umwelt- und Klimapolitik, der aktiven Gestaltung der Digitalisierung sowie der Konsolidierung und Stärkung der Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht der EU.

Zu allen Bereichen machte Macron konkrete Vorschläge.

Die deutsche Reaktion

Macron und der Rest Europas erwarteten eine Antwort aus Berlin auf Macrons Vorlage. Sie ließ lange auf sich warten - unter anderem wegen der Schwierigkeiten bei der deutschen Regierungsbildung und der folgenden Krisen zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU. Als sie dann kam, fiel sie aus Pariser Sicht relativ schwach aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel gab sie zunächst in Form eines Interviews.

Darin formuliert sie das Ziel einer EU als Kraft, "die den Multilateralismus stärkt". Was die Euro-Zone betrifft, dämpft sie französische Hoffnungen. Neben einem Europäischen Währungsfonds fordert sie einen Investiv-Haushalt, um "Staaten bei Reformen zu unterstützen", schließt aber eine deutliche Erhöhung des deutschen Beitrags aus.

Solidarität dürfe nicht in eine "Schuldenunion" münden, sondern müsse "Hilfe zur Selbsthilfe" sein. Daneben schlägt Merkel vor, im UN-Sicherheitsrat europäische Sitze zu schaffen sowie einen "europäischen Sicherheitsrat" und eine gemeinsame europäische Flüchtlingsbehörde zu errichten, "die an den Außengrenzen alle Asylverfahren durchführt".

Merkels Nachfolgerin an der CDU-Spitze und vielleicht auch im Kanzleramt, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat das vor Wochen konkretisiert und andere Akzente gesetzt.

Mit Blick auf die Euro-Zone lehnt sie einen "europäischen Zentralismus" ebenso ab wie eine "Vergemeinschaftung der Schulden" und sie will auch keine "Europäisierung der Sozialsysteme". Wie Merkel fordert sie einen Europäischen Sicherheitsrat, daneben einen gemeinsamen EU-Sitz im UN-Sicherheitsrat (sowie zusätzlich den Bau eines europäischen Flugzeugträgers).

Der wichtigste Unterschied zu Merkel: Kramp-Karrenbauer betont ausdrücklich die Rolle der Nationalstaaten bei der "Neugründung" Europas. Sie formuliert so eine klare Absage an eine supranationale, föderalistische EU, die EU der Gemeinschaftsmethode: "Die Arbeit der europäischen Institutionen kann keine moralische Überlegenheit gegenüber der Zusammenarbeit der nationalen Regierungen beanspruchen."

Europäische Selbstbehauptung in einer Welt der Mächtekonkurrenz kann ihrer Ansicht nach nur auf den bestehenden Nationalstaaten gründen, "sie stiften demokratische Legitimation und Identifikation". Das "internationale Gewicht der Europäer" entstehe daraus, dass die Staaten "ihre eigenen Interessen auf europäischer Ebene formulieren und zusammenbringen".

Die deutsche Reaktion enthält Elemente der Weißbuch-Szenarien eins, drei und vier - sowie eine in dieser Form neue, große Portion Skepsis gegenüber einer "Brüssel"-EU.

Pikettys Manifest für eine Demokratisierung Europas

Thomas Piketty, französischer Ökonom und Autor ("Das Kapital im 21. Jahrhundert"), plädiert für eine "tiefgreifende Umgestaltung der europäischen Politik und ihrer Institutionen". Dazu hat er zusammen mit mehreren Dutzend Wissenschaftlern Ende vergangenen Jahres ein Manifest veröffentlicht, das stark auf linke Reformgedanken in französischer Tradition zurückgreift. Es kann als realistische Variante von Szenario fünf des Weißbuchs gesehen werden, der zufolge sehr viel mehr gemeinsam gemacht werden soll.

Wichtigster Punkt ist die Forderung, eine Europäische Versammlung zu schaffen. Sie soll vor allem aus Abgeordneten bestehen, die aus nationalen Parlamenten und zu einem kleineren Teil aus dem Europäischen Parlament kommen. Diese Versammlung hätte das Recht, einen gesamteuropäischen Haushalt zu beschließen, der für einen sozialen Ausgleich zwischen reichen und armen Staaten auf dem Kontinent sorgt.

Die Idee ist, "dass die Gewinner der Globalisierung zur Finanzierung derjenigen öffentlichen Güter herangezogen werden, die im heutigen Europa so schmerzhaft fehlen. Dies bedeutet, dass große Unternehmen einen höheren Beitrag leisten als kleine und mittlere Unternehmen und dass Menschen mit extrem hohem Einkommen mehr bezahlen als Menschen mit geringem Einkommen."

Europäische Steuern sollen laut dem Manifest auf die Gewinne großer Unternehmen erhoben werden, auf die höchsten privaten Einkommen (mehr als 200 000 Euro pro Jahr), die größten privaten Vermögen (mehr als eine Million Euro) und den Kohlendioxidausstoß (mit einem Mindestpreis von 30 Euro pro Tonne). Der geplante Etat hätte einen enormen Umfang: vier Prozent des europäischen Bruttoinlandprodukts (derzeit ist es etwa ein Prozent).

Dafür könnten daraus aber auch unter anderem "Forschung, Bildung, Ausbildung und die europäischen Universitäten finanziert werden", wie Piketty schreibt. Was ihm vorschwebt, ist "ein ambitioniertes Investitionsprogramm zur Neugestaltung unseres Wachstumsmodells, zur Finanzierung der Aufnahme und Integration von Migranten und zur Unterstützung derjenigen, die an der Umsetzung dieser Neugestaltung mitarbeiten".

Der Traum von der Europäischen Republik

Ulrike Guérot

Ulrike Guérot kämpft für eine Europäische Republik.

(Foto: Dominik Butzmann)

Noch deutlich weiter gehen die deutsche Politologin Ulrike Guérot und der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Seit Langem schon verfolgen sie ihr Projekt, eine echte europäische Republik zu schaffen, weil Europa nur auf diese Weise eine "demokratische Zukunft" haben könne. Sie verstehen das als Utopie, als Plan B für Europa, es ist die utopistische Variante von Szenario fünf des Weißbuchs der Europäischen Kommission. Im November proklamierten sie die geplante Republik schon einmal im Rahmen einer europaweiten Kunstaktion.

Die EU leidet nach Ansicht von Guérot an einem grundsätzlichen Demokratiedefizit, fehlender sozialer Gleichheit und überbordendem Nationalismus. Deshalb brauche es eine Gesellschaft, die am Gemeinwohl orientiert ist und in der die Souveränität bei den Bürgern liegt.

Wichtigster Punkt ihres Vorschlags ist daher die Überwindung der Nationalstaaten, konkret: das Ende des EU-Ministerrats und des Europäischen Rats, jener Gremien also, in denen die Nationalstaaten in der EU ihre Macht ausüben. In ihnen sehen die Autoren das Haupthindernis für einen demokratischen Fortschritt.

Die neue Republik hätte zwei Kammern: ein Repräsentantenhaus, bei dessen Wahl die Stimme jedes europäischen Bürgers gleich viel zählte, sowie einen Senat, in dem Vertreter von Europas Regionen säßen. Diese "traditionellen Kulturregionen" sollen als kleinere Einheiten mit sieben bis 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern die bestehenden Staaten ersetzen. Ein europäischer Präsident würde direkt gewählt, die Regierung ist von der politischen Mehrheit im Parlament abhängig. Neben der Wahlrechtsgleichheit hätten alle Europäer eine Steuergleichheit und gleichen Zugang zu sozialen Rechten. Der "allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger jenseits von Nationen" sei "die Stellschraube, aus der sich alle überfälligen Reformen ableiten ließen".

Wie dahin kommen? Im Grunde hält Guérot die EU für nicht reformierbar und fordert eine friedliche Revolution: "Es geht jetzt darum, in einem Akt kreativer Zerstörung à la Schumpeter die EU kaputt zu machen, um damit ein neues Europa entstehen zu lassen."

Dem Problem, dass ein solch großes und heterogenes Gebilde demokratisch schwer kontrolliert werden kann, will Guérot mit neuen Methoden der Bürgerbeteiligung begegnen: Konzepten wie Liquid Democracy, Social-Media-Plattformen oder Hackathons (Veranstaltungen, auf denen viele Teilnehmer gemeinsam Software entwickeln).

Plädoyer für ein Europa mit einem "flexiblen Kern"

Die Niederlande, einer der Gründungsstaaten der heutigen Europäischen Union, zählen inzwischen zu den gemäßigt skeptischen EU-Mitgliedern. Der amtierende Ministerpräsident Mark Rutte hat in Reden eine Union skizziert, die hauptsächlich auf dem Binnenmarkt und dem Euro gründet, verbunden mit der Philosophie des Weißbuch-Szenarios vier: weniger machen, und das effizienter.

Anders argumentiert dagegen das wissenschaftliche Beratergremium der niederländischen Regierung (WRR). In ihrem kürzlich veröffentlichten, inspirierenden Bericht "Variation in der Europäischen Union" (Variation in the European Union) sehen vier Experten des WRR die EU als überfordert an, überfordert durch die Anzahl ihrer Mitglieder und die Größe ihrer Aufgaben.

Im Gefüge der Union seien Risse erkennbar, heißt es, als Folge unterschiedlicher Ansichten etwa bei der Migration, der Wirtschaftspolitik oder der Außenhandelspolitik. Deshalb plädieren die Experten für eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten (Szenario drei des Weißbuchs), eine EU, die Raum lässt für unterschiedliche Entwicklungen und Bedürfnisse. Das Weißbuch, kritisieren sie, frage nur nach dem "Wie" der Zusammenarbeit, nicht aber nach dem "Warum".

Kernaussage des Berichts: Man sollte sich von einer einheitlichen EU verabschieden, die es ohnehin nicht mehr gibt, und verschiedene Optionen des Mitmachens zulassen, die aber auf einem unveränderlichen Binnenmarkt- und Wertefundament ruhen. Variation zu akzeptieren würde ihrer Ansicht nach die Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, aber auch zwischen den Institutionen und den Bürgern neu beleben.

Was den Experten vorschwebt, ähnelt jenem Kerneuropa, wie es zuerst im berühmten Schäuble-Lamers-Papier 1994 skizziert wurde. Ihre Idee: Um eine wachsende EU zu stabilisieren, müsste ein Kern weiter gefestigt werden, der um die deutsch-französische Achse herumgebaut würde, dazu kämen die Benelux-Staaten.

Die Niederländer denken jedoch eher an ein Europa der konzentrischen Kreise oder ein Europa mit einem "flexiblen Kern". Die EU-Verträge liefern diverse rechtliche Instrumente dafür: etwa über die "Verstärkte Zusammenarbeit" nach Art. 20 des EU-Vertrags, Opt-in- oder Opt-out-Möglichkeiten oder Regierungsvereinbarungen, wie sie etwa dem europäischen Rettungsfonds zugrunde lagen.

Die Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten müsse weniger hierarchisch als kooperativ verlaufen, im Sinne eines Zusammenspiels der Völker ("Demoikratie", nach dem Plural demoi des griechischen Wortes demos). Das könnte bedeuten, dass europäische Gesetze auch von nationalen Parlamenten angestoßen werden könnten.

Als Paradebeispiele für Variation, wie sie die Niederländer verstehen, werden der Euro aufgeführt, den nicht alle EU-Mitglieder als Währung übernommen haben, oder der Schengen-Raum, der auch Nicht-EU-Mitglieder einschließt. Auch in der Asyl- und Migrationspolitik müsse nicht alles harmonisiert, sondern könnten Unterschiede produktiv genutzt werden, mit einer gemeinsamen Basis wie dem Non-Refoulement-Prinzip des Völkerrechts ("Grundsatz der Nichtzurückweisung" von Migranten, denen in ihrer Heimat Menschenrechtsverletzungen drohen).

Je nach Politikfeld und je nach den Zielen, die erreicht werden sollen, müsse entschieden werden, welche Art von Zusammenarbeit angebracht wäre. "Der Inhalt bestimmt die Form." Die EU sei in diesem Sinne niemals fertig, und es gebe auch kein Endziel mehr, auf das hinzuarbeiten wäre, etwa einen föderalen Staat.

Ivan Krastev: EU mit Westen und Osten

Werkstatt Demokratie: Der bulgarische Politologe Ivan Krastev fordert die westlichen EU-Staaten auf, die kulturell und historisch bedingten Unterschiede zum Osten mehr zu berücksichtigen.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev fordert die westlichen EU-Staaten auf, die kulturell und historisch bedingten Unterschiede zum Osten mehr zu berücksichtigen.

(Foto: Suhrkamp Verlag; Bearbeitung SZ)

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev ist einer der originellsten europäischen Denker. Und er hat sich intensiv mit dem Konflikt befasst, der die Union seit Jahren stark belastet: jenem zwischen Ost und West. In der "Flüchtlingskrise" kulminiert dieser Konflikt für ihn, sie stellt für ihn Europas 11. September dar, wie er im Buch "Europadämmerung" schreibt. Diese Krise offenbart die kulturell und historisch bedingten Unterschiede: mühsame Integrationsversuche im Westen, tiefgreifende Ablehnung der Migration im Osten, die der Westen als mangelnde Solidarität auslegt.

Krastev versucht Verständnis zu wecken für diese Unterschiede. Während der Westen daran arbeite, Diversität in seinen Gesellschaften auszuhalten, habe die historische Erfahrung mit dem Kommunismus und den Nationalitätenkonflikten im Osten zu einem tiefen Zweifel am liberalen Menschenrechtsdiskurs, an Offenheit, Vielfalt und Minderheitenschutz geführt.

Der Osten habe den Westen lange Zeit nachahmen wollen, jetzt wolle er ein Gegenmodell propagieren. Das postmoderne, kosmopolitische Europa der EU gelte vielen Osteuropäern als anomal, als verdächtig.

Krastev redet keineswegs dem Illiberalismus und Autoritarismus in einigen osteuropäischen Staaten das Wort, im Gegenteil. Aber er weist auf Fehler der westlichen "globalistischen" Eliten hin, die sich von den Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelt hätten. Diese würden sich nicht eingestehen wollen, dass unkontrollierte Zuwanderung zu wirtschaftlichen und kulturellen Konflikten führen könne. Krastev warnt vor zu viel Optimismus. Er versucht, die Augen zu öffnen für eine mögliche "Implosion" der EU, den drohenden Kollaps mehrerer Mitgliedstaaten und das Ende vom Traum eines freien und geeinten Europas.

Sein Plädoyer ist kurz, arm an Details und doch bedeutsam: Europa müsse diesen politisch-kulturellen Zwiespalt aushalten lernen. Der Westen müsse aufhören, den Osten nach seinem Ebenbild gestalten, bekehren und therapieren zu wollen und sollte endlich versuchen, ihn zu verstehen. Krastev wirbt für Kompromissbereitschaft, Flexibilität, für den Willen zur Versöhnung. Der Osten soll Osten bleiben dürfen.

Linke Vision: enge Zusammenarbeit der Nationalstaaten

Abseits der Hauptstraße liegt die Position von drei Wissenschaftlern des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Wolfgang Streeck, Fritz W. Scharpf und Martin Höpner sind gleichzeitig Befürworter einer engen europäischen Zusammenarbeit und scharfe Kritiker der EU. Ihre Kritik kommt von links und mündet in eine Verteidigung des klassischen Nationalstaats.

Nur dieser biete das geeignete politische Gefäß für eine soziale und demokratische Politik, während das gemeinschaftliche Europa à la EU ein zunehmend antidemokratisch und neoliberal sei. Kapitalismus-Kritiker Streeck sieht die EU außerdem als Teil der europaweiten Entwicklung vom Steuer- zum Schuldenstaat, genauer: zu einem "Konsolidierungs- und Austeritäts-Staat".

Als Alternative "zu der ever closer union des Maastrichter Vertrags mit ihrer Vision eines zentralisierten, supranationalen Superstaats" fordert Streeck ein Europa einer "variablen Geometrie", in dem die Nationalstaaten à la carte zusammenarbeiten.

Scharpf wiederum warnt seit Jahren vor den Risiken der Währungsunion. Die teilnehmenden Volkswirtschaften seien viel zu heterogen, als dass ein einheitlicher Zinssatz wie der der Europäischen Zentralbank (EZB) für alle passen könnte. Er empfiehlt eine Rückkehr zum Europäischen Währungssystem. Alternativ hält er auch eine Konzentration auf ein Nord-Euro-Gebiet für sinnvoll.

In einem gemeinsamen Artikel machen die drei Autoren drei Vorschläge für eine neue EU.

  • Die Macht des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sollte begrenzt werden. Dieser habe als "Motor der Integration" seine Befugnis, die Verträge zu interpretieren, übermäßig gebraucht. Wo immer möglich, habe er der europäischen Integration eine "wirtschaftsliberale Richtung" gegeben, die der sozialen Marktwirtschaft zuwiderlaufe. Höpner, Streeck und Scharpf schlagen daher vor, dem EuGH das Schwert aus der Hand zu schlagen: Die Verträge müssten so geändert werden, "dass im Hinblick auf die Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten allein an Richtlinien und Verordnungen des europäischen Gesetzgebers gebunden sind".
  • Zweitens wollen die Autoren den EU-Gesetzgeber "politisch handlungsfähiger" machen. Das ginge, wenn Entscheidungen im Rat der Mitgliedstaaten nur noch mit einfacher Mehrheit getroffen werden. Weil damit allerdings die politische Legitimität der Gesetzgebung untergraben würde, solle es neben dem bisherigen "ordentlichen Gesetzgebungsverfahren" optional noch ein weiteres geben. Dabei würde mit Mehrheit entschieden, doch einzelne Staaten könnten die Anwendung des Gesetzes auf ihr Land durch ein "formelles Opt-out" ausschließen.
  • Drittens wird eine Rückkehr zum Europäischen Währungssystem angeregt: "Es schützte seine Teilnehmer vor kurzfristigen Ausschlägen der Finanzmärkte, erlaubte aber gleichwohl, die Währungskurse anzupassen, wenn das nötig wurde."

Als ersten Schritt schlagen die Autoren ein "Auffangbecken" für Länder vor, die den Euro verlassen wollen. Die EZB müsste diese Länder mit Interventionen am Devisenmarkt vor einem Absturz bewahren.

Rechte Vision: "Europa der Vaterländer"

Jörg Meuthen

Jörg Meuthen, Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, hält einen Austritt Deutschlands für richtig - wenn nicht in angemessener Zeit Reformen im Sinne der Rechten verwirklicht werden.

(Foto: dpa)

Stellvertretend für die Visionen der rechten Parteien in Europa kann man das Europawahlprogramm der Alternative für Deutschland (AfD) betrachten.

Die AfD will ein "Europa der Vaterländer" statt einer "quasistaatlichen Europäischen Union". Das liefe auf ein Europa mit nur punktueller Zusammenarbeit von Regierungen hinaus, die möglichst wenige Kompetenzen an "Brüssel" abgeben und prinzipiell das letzte Wort behalten.

Zwar bewirbt sich die Partei um Mandate für das Europaparlament, will dieses aber radikal verkleinern oder sogar ersatzlos abschaffen. Das Parlament "mit seinen derzeit privilegierten 751 Abgeordneten" sei undemokratisch, so die Begründung. Die Rechtsetzungskompetenz wird ausschließlich bei den Nationalstaaten gesehen, einzelne Mitgliedsländer sollen aber intensiv zusammenarbeiten.

Über wichtige Fragen wie den Verbleib in der EU, der Währungsunion, eine EU-Erweiterung, die Abgabe von Souveränität oder Haftungszusagen sollen sich die Bundesbürger per Volksabstimmung äußern können.

Deutschland soll die Euro-Zone verlassen, denn es habe "im Euro-Korsett" die Wettbewerbsfähigkeit verloren. Mit einer wiedereingeführten nationalen Währung sollen Einkommen und Kaufkraft erhöht werden - gegebenenfalls unter paralleler Beibehaltung des Euro.

Wird das Staatenbündnis nicht nach ihren Vorstellungen reformiert, fordern die Rechten einen Austritt Deutschlands aus der EU oder deren "geordnete Auflösung". Eine Frist hierfür gibt es allerdings nicht.

Die AfD warnt vor einer "Marginalisierung der einheimischen Bevölkerung" bei weiterer Zuwanderung und stellt sich gegen den UN-Migrationspakt und ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Nationale Grenzkontrollen sollten dauerhaft wiedereingeführt werden. Die Vergemeinschaftung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik lehnen die Rechten ab, genau wie eine EU-Armee.

EU-Richtlinien etwa zur Luftreinhaltung will die AfD nicht, auch in der Landwirtschaft und beim Verbraucherschutz fordert sie "alle Zuständigkeiten von der EU zurück". Das Ziel der EU und der etablierten Parteien sei "die Abschaffung des Individualverkehrs für die Masse der Bevölkerung". Sie dagegen will sich auf EU-Ebene für die Autofahrer starkmachen. Gegen die Dieselfahrverbote ist die Partei sowieso.

Zur SZ-Startseite

Werkstatt Demokratie
:Europas Zukunft - in welcher Heimat wollen wir leben?

Machen Sie mit beim Bessermachen! In der Werkstatt Demokratie suchen wir neue Ideen für Ihre Themen. Alles zum Thema Heimat Europa.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: