Als einer der wenigen Europaabgeordneten ist Guy Verhofstadt jenseits der eigenen Heimat bekannt. Kaum jemand nutzt soziale Medien so gekonnt wie Belgiens früherer Premier. Dass ihm auf Twitter und Facebook jeweils mehrere Hunderttausende folgen, liegt an seiner Kampfeslust und den klaren Aussagen. Ein Beispiel? "Nur der Himmel setzt uns Grenzen", sagte Verhofstadt Mitte April zum Start der interaktiven Digital-Plattform, die im Zentrum der "Konferenz zur Zukunft Europas" steht.
Alle, die die Website https://futureu.europa.eu aufrufen, lesen zunächst "Die Zukunft liegt in Ihren Händen" in einer der 24 offiziellen Sprachen der EU. Darunter steht "Verschaffen Sie sich Gehör" - und genau dies ist das Ziel des ambitionierten Projekts, bei dem Verhofstadt das Europaparlament vertritt: Die europäischen Institutionen wollen bis zum Frühjahr 2022 von möglichst vielen der 450 Millionen Menschen in der EU erfahren, wie sich die Europäische Union verändern soll. Anfang Mai forderte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung auch "jene, die Europa eher kritisch gegenüberstehen" dazu auf, sich einzubringen. Gerade den Europaabgeordneten ist es wichtig, dass es keine Tabus gibt.
In langen Verhandlungen haben sich EU-Kommission, Europaparlament und die 27 Mitgliedstaaten auf neun Themen geeinigt: Sie reichen von "Klimawandel und Umwelt" über "Gesundheit" bis zu "Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung" und "die EU in der Welt". Die Bürger sollen ihre Meinung zu Migration und digitalen Wandel ebenso äußern wie zu "Demokratie in Europa", Rechtsstaatlichkeit oder dem Themenkomplex "Bildung, Kultur, Jugend und Sport".
Als Guy Verhofstadt nur den Himmel als Limit nannte, spielte er darauf an, dass im Bereich "Weitere Ideen" eben diese Platz finden sollen. Und er wollte wohl ausdrücken, dass die Bürgerinnen und Bürger keine Angst vor unkonventionellen Gedanken haben oder sich ständig fragen sollten, was nach den aktuell geltenden EU-Verträgen erlaubt ist. Eine Debatte über deren mögliche Änderung wollen jedoch viele Regierungen, gerade in Nord- und Osteuropa, unbedingt vermeiden.
Bürger können eigene Veranstaltungen ausrichten
Die Vorschläge und Kommentare, von denen bisher einige Tausend eingegangen sind, sind für alle zugänglich. Wer selbst Ideen einbringen, an Veranstaltungen teilnehmen oder eine solche organisieren will, muss sich bei der Plattform registrieren. Bisher haben dies erst knapp zehntausend Menschen getan, aber im Europaparlament hofft man auf einen Schub nach der feierlichen Eröffnung in Straßburg. Die Anmeldung geht recht schnell: Wer kein neues Benutzerkonto anlegen will, kann entweder Accounts von Facebook, Twitter und Google verwenden oder digitale Ausweise, wenn diese verfügbar sind. Besonders spannend: Die Teilnehmer können auch untereinander diskutieren, über Landes- und Sprachgrenzen hinweg.
Auf der Plattform findet sich viel Material. Es gibt Leitfäden, die Schritt für Schritt bei der Organisation von physischen, virtuellen oder hybriden Veranstaltungen helfen: Wer führt Protokoll, warum ist neben dem Veranstalter ein zusätzlicher Moderator sinnvoll, und wie einigen sich die Teilnehmer auf ihren Bericht? Das ist wichtig, weil die Organisationen einen Feedback-Mechanismus zusagen, so dass die in den Veranstaltungen vorgebrachten Ideen auch zu "konkreten Empfehlungen für EU-Maßnahmen" führen.
Ein Zwischenbericht soll im Frühjahr 2022 vorliegen
Damit es auf der Plattform korrekt zugeht und etwa illegale oder hetzerische Nachrichten entdeckt werden, sind Moderatoren im Einsatz. Die Organisatoren von Veranstaltungen müssen vorab die "Konferenzcharta" unterschreiben: Sie ruft zu einem respektvollen Umgang auf und betont die Wichtigkeit von Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und der Gleichheit von Frauen und Männern.
Gerade in Deutschland ist davon auszugehen, dass auch zahlreiche nationale, regionale und lokale Behörden Veranstaltungen ausrichten werden - auch mit internationalen Teilnehmern. Seit Langem bereiten sich etwa Stiftungen auf den Start der Zukunftskonferenz vor. Deren zentraler Bestandteil sind auch vier Bürgerkonferenzen in Brüssel, Straßburg, Florenz und Warschau, an denen jeweils 200 zufällig ausgewählte Menschen teilnehmen sollen. Jedes Mitgliedsland entsendet mindestens eine Frau und einen Mann - und etwa ein Drittel der Teilnehmer soll zwischen 16 und 25 Jahre alt sein.
Es wird zudem darauf geachtet, dass alle Altersstufen und Bildungsniveaus vertreten sind - und sich nicht nur Menschen aus Großstädten beteiligen. Ein Zwischenbericht soll im Frühjahr 2022 vorliegen, wenn Frankreich die Ratspräsidentschaft in der EU übernimmt. Dies ist auch der Grund, weshalb Präsident Emmanuel Macron bei der Eröffnung in Straßburg am Sonntagnachmittag eine Rede gehalten hat.