EU:"Wenn das schiefgeht mit Europa ..."

Europawahlkampf der SPD

Nicht nur schöne Erlebnisse im Wahlkampf hat Frans Timmermans. Aber für die europäische Idee lohnt es sich zu kämpfen, findet der Sozialdemokrat und denkt dabei vor allem an seine Kinder.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Frans Timmermans will Kommissionspräsident werden, den Wahlkampf bestreitet er vor allem mit Anekdoten. Nicht überall ist der Sozialdemokrat willkommen, aber davon lässt sich der Politiker nicht beirren.

Von Matthias Kolb, Warschau/Berlin

Bevor Frans Timmermans nach vorne schaut, geht es zurück in die Vergangenheit. Über die "Zukunft Europas" soll diskutiert werden beim Kongress der Sozialdemokratischen Partei Polens (SLD) in Warschau, doch der Spitzenkandidat für die Europawahl erzählt vom "Befreiungstag" zum Ende der deutschen Besatzung, den die Niederländer am Sonntag feierten: "Dass mein Land die Freiheit zurückerhielt, liegt auch an der Tapferkeit polnischer Soldaten." Sein Vater werde immer vergesslicher, sagt Timmermans, aber eines sei dem alten Herrn sehr präsent: "Polnische Soldaten lebten nach dem Zweiten Weltkrieg im Haus seiner Eltern."

Diese Anekdoten sind typisch für den Sozialdemokraten Timmermans, der Chef der nächsten EU-Kommission werden will. Während zweieinhalb Wochen vor der Europawahl hierzulande nur wenige den 58-jährigen Timmermans kennen, ist er in Polen enorm bekannt, und er polarisiert. Das liegt an seinem eigentlichen Job: Als Erster Vizepräsident der EU-Kommission ist er nicht nur für Bürokratieabbau zuständig, sondern auch für Rechtsstaatlichkeit. Und seit Brüssel 2017 ein Strafverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Warschau eingeleitet hat, dringt Timmermans darauf, die Unabhängigkeit der Richter zu bewahren.

Da Timmermans in Ungarn Personenschützer dabeihatte, wurde ihm Feigheit vorgeworfen

Aus Sicht der Wähler der nationalkonservativen PiS-Regierung führt er eine "antipolnische Kampagne" zur eigenen Profilierung. Doch für jüngere Polen und Fans der Opposition verkörpert der frühere Außenminister die weltoffene EU. Bei seinem fünfstündigen Aufenthalt betont er immer wieder seine Sympathie für das größte Land Osteuropas: "Polen muss eine führende Rolle in Europa spielen, und die einzigen, die das verhindern können, sind die Polen selbst." Seine Botschaft ist klar: Eine unabhängige Justiz ist kein Hobby von Bürokraten in Brüssel, sondern essenziell für alle Bürger in Polen.

Die Frage, warum er nach vielen Jahren in der Politik und trotz der vielen Wahlniederlagen für Sozialdemokraten in Europa Spitzenkandidat werden wollte, beantwortet Timmermans mit einer weiteren Anekdote. Er habe mit seiner Frau lange darüber gesprochen, was in EU-Staaten wie Polen oder Ungarn gerade passiert. "Wir haben vier Kinder, und meine Frau hat gesagt: 'Unsere Jüngsten sind Teenager. Wenn das schiefgeht mit Europa, dann fragen die doch in zehn Jahren, was Papa und Mama gemacht haben, um das zu verhindern'. Da war klar, dass ich antrete."

Auf seinen Reisen erlebt Timmermans auch Unschönes. In der Warschauer Zentrale der Gewerkschaft OPZZ berichtet er bei Instant-Kaffee von seinem Besuch in jenem anderen EU-Land, wo ihn fast jeder Wähler kennt: Ungarn. "In Budapest wollte ich ebenfalls Gewerkschafter treffen, und einige stellten Bedingungen: Der Ort müsse geheim bleiben und der Raum dürfe keine Fenster haben", sagt Timmermans. Riesig sei die Angst der Arbeitervertreter gewesen, von regierungsnahen Medien dabei gefilmt zu werden, wie sie jenen EU-Kommissar treffen, den Ministerpräsident Viktor Orbán als Staatsfeind ansieht. Wiederholt hätten ihm Männer in Lederjacken aufgelauert, die ihn per Smartphone gefilmt und nach angeblichen Absprachen mit dem Milliardär George Soros, mehr Flüchtlinge nach Europa zu holen, gefragt hätten. Die Stimmung sei so aggressiv gewesen, dass seine Begleiter unruhig geworden seien. Da Timmermans Personenschützer dabeihatte, wurde ihm in Ungarns Staatsmedien Feigheit vorgeworfen.

Die persönlichen Attacken tragen dazu bei, dass er den Abbau der Rechtsstaaten in Polen, Ungarn oder Rumänien als "existenzielle Bedrohung" ansieht. "Hitler wurde demokratisch gewählt, und Wochen später ließ er seine Gegner in Lager sperren", so sein Vergleich. Der Kritik, die Kommission habe zu zögerlich auf die aktuellen Entwicklungen reagiert, widerspricht Timmermans. Schlimmeres sei verhindert worden, das Problem sei der fehlende politische Wille der Mitgliedstaaten: "Sie wollen nicht gegen einen aus dem Klub vorgehen."

Gründe für Optimismus findet der selbstbewusste Sozialdemokrat genug: Gerade in Polen wachse die Zustimmung für die EU seit Beginn des Artikel-7-Verfahrens, und die Zivilgesellschaft sei sehr aktiv.

Die Treffen mit den Gewerkschaftern sind ihm wichtig, weil er gerade hier Unterstützung für seine Themen braucht. Timmermans ist überzeugt, dass die vierte industrielle Revolution das Leben der Bürger stärker umkrempeln wird, als vielen bewusst ist: "Wer wird Wandel gestalten: Google, Russland oder ein geeintes Europa?" Seine Forderung: Die EU muss sozial gerechter werden, etwa mit einem europaweiten Mindestlohn von 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens.

Und er will Europas Wirtschaft bis 2050 klimaneutral machen, was für einige elitär klingt. Seine Biografie macht es Gegnern allerdings leicht, Timmermans als abgehobenen Intellektuellen darzustellen. Der Diplomatensohn wuchs unter anderem in Rom auf und spricht neben Italienisch, Englisch, Französisch und Russisch auch Deutsch, weshalb er problemlos mit seinem Kontrahenten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP) debattieren kann.

Der Niederländer erklärt auch, von wem er sich auf keinen Fall wählen lassen möchte

Von Warschau geht es per Linienflug nach Berlin, wo Timmermans mit den SPD-Spitzenkandidaten Katarina Barley und Udo Bullmann auftritt. Die im Nieselregen stehenden Genossen sind aufgeschlossen und stellen die richtigen Fragen. Mit wem will er eine "progressive Mehrheit" im EU-Parlament bilden, um die EVP auszustechen? Er kämpfe um jede Stimme, betont Timmermans, und umwerbe neben den Grünen und Linken auch die Liberalen und einen Staatschef: "Emmanuel Macron wird sich entscheiden müssen, auf welcher Seite er steht." Dass Orbán nun dem Konservativen Weber die Unterstützung verweigert, beschäftige ihn so wenig wie die Tatsache, dass dank der britischen Labour-Partei die sozialdemokratische Fraktion nun größer werden dürfte. Dieser Vorteil könnte wahrlich schnell egalisiert werden, denn ohne ein radikales Umdenken in Bukarest werden Europas Sozialdemokraten im Juni die Regierungspartei PSD ausschließen - wegen des Abbaus des Rechtsstaats. "Ich lasse mich von denen nicht zum Kommissionschef wählen", versichert Timmermans.

Der Wahlkampf mache ihn nicht müde, sagt er nach dem SPD-Event. Zu Hause, wo seine Partij van de Arbeid zuletzt 8,5 Prozent erhielt, können sich nun 21 Prozent vorstellen, für die Sozialdemokraten zu stimmen. Die Niederländer halten wie die Briten bereits am 23. Mai, dem ersten der vier Wahltage, die Europawahl ab, doch Timmermans wird bis zum letzten Moment kämpfen. "Wir wissen schon, in welchen Ländern noch am Samstag Wahlkampf gemacht werden darf", berichtet er. Erlaubt ist dies in Österreich und Portugal, und dort wird er zu finden sein.

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