Süddeutsche Zeitung

Impfgerechtigkeit:Doch keine Geizkragen

Wie die EU das Image wieder loswerden will, dass sie einer Weitergabe von Impfstoffen an die ärmeren Länder der Welt im Wege steht.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Zahlen machen Mut, die Ursula von der Leyen Ende vergangener Woche zunächst beim informellen EU-Gipfel und später vor den Medien präsentierte. Mehr als 200 Millionen Corona-Impfdosen seien in der EU ausgeliefert worden, sagte die Kommissionschefin, "fast 160 Millionen Europäer haben ihre erste Impfung erhalten". Bis Juli sollen genug Vakzine verteilt sein, um 70 Prozent der Europäer zu impfen, sagte von der Leyen in Porto. Damit liege man im Plan.

Und noch eine Zahl, die Optimismus verbreiten sollte: Die Kommission habe mit Biontech und Pfizer einen Vertrag über nicht weniger als 1,8 Milliarden Impfdosen für 2022 und 2023 abgeschlossen, sagte von der Leyen. Die Versorgung der EU mit Vakzinen scheint also gesichert, auch wenn bald Kinder und Jugendliche geimpft werden dürfen, eine Auffrischung nötig wird oder neue, gefährliche Varianten auftauchen. Doch die öffentliche Debatte ist weiterhin geprägt durch den Vorstoß von US-Präsident Joe Biden, die Patente für Covid-19-Impfstoffe freizugeben. Der hat die Europäer nicht gerade begeistert. Die sieht sich überrumpelt und düpiert. Biden habe mit diesem "PR-Trick", wie er beim EU-Gipfel bezeichnet wurde, den Europäern das Image von egoistischen Blockierern aufgedrückt, die weder Indien noch den afrikanischen Ländern noch den direkten Nachbarn helfen wollten.

Für 2021 sind alle Vakzine weggekauft oder verplant

Diesen Vorwurf versuchte von der Leyen mit dem Hinweis zu kontern, dass die Hälfte der in der EU hergestellten Impfstoffe exportiert worden sei: "200 Millionen Dosen wurden in mehr als 90 Länder ausgeführt." Wenn die USA selbst und Großbritannien mehr Komponenten und Vakzine exportieren würden, wäre dies die schnellste und wirksamste Hilfe. In der Kommission und den europäischen Hauptstädten weiß man, dass für 2021 alle Impfstoffe weggekauft und die Lieferungen verplant sind.

Und man weiß, dass jede Diskussion über Impfstoffe und deren Lieferungen symbolisch aufgeladen ist und geopolitische Folgen haben kann. Deshalb will die EU noch aktiver werden. Der Satz "Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind" fehlt in keiner Stellungnahme zur Pandemie-Bekämpfung. In einigen Hauptstädten wird erwogen, mehr Impfstoffe über die globale Covax-Impf-Initiative an ärmere Länder zu spenden. Von der Leyen hob in Porto hervor, dass die EU Covax nicht nur "massiv finanziert", sondern darüber hinaus bereits Impfstoffe geteilt hat. Allerdings sieht man in der Kommission mit Sorge, dass Covax ihre Ziele verfehlt. Bisher wurden nur knapp 60 Millionen Impfdosen an 122 Länder geliefert. Bis Ende 2021 sollen es eigentlich zwei Milliarden Vakzine sein. Doch seit Ende März liefert der indische Produzent "Serum Institute" nichts mehr an Covax.

In Brüssel hofft man nun, dass künftig mehr EU-Länder bereit sein werden, Vakzine an Covax weiterzugeben, da sie nun deren Empfänger bestimmen dürfen. Frankreich hat so Ende April 105 000 Dosen an Mauretanien geliefert, bis Mitte Juni sollen es eine halbe Million werden. Ähnliche Pläne haben Spanien, Portugal, Schweden und Dänemark. Von der Leyen lobte in Porto auch Rumänien, das der Republik Moldau hilft, sowie Österreich.

Die Kommission verfügt selbst über keine einzige Dose Impfstoff

Die Regierung in Wien arbeitet seit Februar daran, dem Westbalkan zu helfen. Die Region ist von EU-Staaten umgeben, alle sechs Länder streben in die Union. Damit bis August 650 000 Vakzine von Biontech/Pfizer nach Bosnien-Herzegowina, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo sowie nach Montenegro und Serbien geliefert werden können, musste Österreich als Koordinator agieren. Denn die Kommission verfügt selbst über keine einzige Dose Impfstoff. Deshalb muss vor einer solchen Aktion ein EU-Mitglied entsprechende Verträge mit den Herstellern sowie den Empfängerländern abschließen und die Zwischenfinanzierung übernehmen. Nun macht sich Polen bereit, die Koordinatorenrolle für die Länder der "Östlichen Partnerschaft" zu übernehmen. Dutzende Millionen Dosen sollen in die Ukraine, nach Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldau sowie nach Belarus gehen. Auch in Nordafrika will die EU helfen.

In ihrer Pressekonferenz nannte Ursula von der Leyen Beispiele, wie die EU in Afrika hilft. Die Europäische Investmentbank unterstützt zusammen mit Belgien, Frankreich und Deutschland das Institut Pasteur in Senegal. Gemeinsam mit Deutschland versucht die Kommission, in den Ländern südlich der Sahara Produktionsstätten für Impfstoffe aufzubauen. An weiterer konkreter Hilfe werde gearbeitet, sagte von der Leyen. Auch Indien sicherte sie Unterstützung zu: "17 EU-Länder haben Material im Wert von mehr als 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, das auf dem Weg nach Indien ist." Doch trotz von der Leyens akribisch referierter Zahlreihen - die Debatte, ob die reiche EU wirklich genug Solidarität mit ärmeren Ländern zeigt, dürfte damit nicht zu Ende sein.

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