In Deutschland wird seit Monaten über eine Wahlrechtsreform diskutiert. Dabei hätte auch die Europäische Union dringend eine nötig, findet Anna Comacchio. Mit der Bürgerinitiative "Voters without Borders" setzt sich die 26-jährige Italienerin dafür ein, dass Europäer, die in einem anderen EU-Land leben und arbeiten, dort auch auf nationaler Ebene wählen können.
SZ: Frau Comacchio, wer als Deutsche in Belgien oder als Spanier in Polen lebt, kann schon jetzt bei kommunalen oder Europawahlen wählen. Warum reicht Ihnen das nicht?
Anna Comacchio: Wer in einem anderen EU-Land lebt und arbeitet, zahlt dort Steuern, die Kinder gehen dort zur Schule. Gesetze betreffen einen viel stärker dort, wo man wohnt, als solche, die im Heimatland neu erlassen werden. Darum wäre es nur logisch, den Menschen die Wahl zu lassen, wo sie wählen wollen. Beim Brexit zum Beispiel konnten 3,7 Millionen Europäer, die in Großbritannien leben, nicht bei einem Referendum mitentscheiden, das riesigen Einfluss auf ihr Leben hat.
Die EU-Kommission schätzt, dass bei den Europawahlen 2019 überhaupt nur zehn Prozent der EU-Ausländer von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, im Land, in dem sie leben, zu wählen.
Wir glauben, das liegt vor allem an sprachlichen, aber auch an bürokratischen Hürden. Ich zum Beispiel wollte während meines Studiums in Leipzig wählen - aber um überhaupt Wahlunterlagen zu bekommen, musste ich zweimal zum Bürgeramt gehen, weil die erst gar nicht wussten, was sie mit mir anfangen sollten. Nicht jeder hat die Zeit, sich wirklich so dahinter zu klemmen. Untersuchungen zeigen aber, dass die meisten Leute lieber dort wählen wollen, wo sie wohnen, als dort, wo sie ursprünglich herkommen. Dass nur so wenige es auch tun, liegt meistens schlicht daran, dass sie nicht wissen, dass sie es könnten. Darum setzen wir uns dafür ein, dass das Wählen für EU-Ausländer auch bei Kommunal- und Europawahlen einfacher wird. Das würde die Unionsbürgerschaft aufwerten, und Politiker müssten sich mehr für die Interessen der internationalen Communities vor Ort interessieren.
Expats interessieren sich andersherum ja oft auch nicht so sehr für die nationale Politik des Landes, in dem sie leben. Sollte man sich nicht zumindest ein bisschen auskennen, um mitwählen zu dürfen?
Es interessieren sich auch nicht alle Menschen für die Politik ihres eigenen Heimatlandes, und die dürfen dort dennoch abstimmen. Wenn jemand wählen will, ist das ein Zeichen dafür, dass er auch mitbestimmen still. Bei Kommunal- und Europawahlen ist in den Mitgliedsländern jeweils festgelegt, wie lange man schon dort leben muss, um wählen zu dürfen - solche Regeln würden wir für nationale Wahlen auch empfehlen. Und es müsste natürlich ausgeschlossen sein, dass jemand zweimal wählt.
Wie viele Leute betrifft das überhaupt? Ist das nicht eher ein Thema für einen kleinen, ausgewählten Kreis?
Derzeit gibt es 14 Millionen Europäer, die von so einem Wahlrecht profitieren würden. In Städten wie Berlin, Brüssel oder Wien machen EU-Ausländer einen signifikanten Teil der Bevölkerung aus. Es geht uns aber nicht nur um die Leute, die jetzt direkt etwas davon hätten, sondern potenziell um alle, die vielleicht eines Tages mal in einem anderen EU-Land leben wollen. Gerade für die Generation Erasmus ist das ein großes Thema.
Trotzdem: Damit die EU-Kommission verpflichtet ist, sich mit der Bürgerinitiative zu befassen, müssen immerhin eine Million Europäer unterzeichnen. Wie wollen Sie das schaffen? Auf der Straße Zettel verteilen geht ja gerade nicht so gut.
Wir veranstalten eine Menge Webinare, aber ja, es ist nicht so leicht im Moment. Wir versuchen vor allem dort auf uns aufmerksam zu machen, wo demnächst gewählt wird - wie im Oktober in Wien. Bis jetzt läuft es eigentlich ganz gut. Aber auch, wenn wir die Million nicht erreichen, ist es trotzdem gut, überhaupt mal das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen.